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Er stockte wieder. Dann riß er sich plötzlich den Sessel heran zu mir.
»So geht es nicht. Ich muß Ihnen alles direkt erzählen, von Anfang an,
sonst verstehen Sie es nicht … Das, das läßt sich nicht als Exempel, als
Theorie entwickeln … ich muß Ihnen meinen Fall erzählen. Da gibt es keine
Scham, kein Verstecken … vor mir ziehen sich auch die Leute nackt aus und
zeigen mir ihren Grind, ihren Harn und ihre Exkremente … wenn man
geholfen haben will, darf man nicht Herumreden und nichts verschweigen …
Also ich werde Ihnen keinen Fall erzählen von einem sagenhaften Arzt … ich
ziehe mich nackt aus und sage: ich … das Schämen habe ich verlernt in dieser
dreckigen Einsamkeit, in diesem verfluchten Land, das einem die Seele
ausfrißt und das Mark aus den Lenden saugt.«
Ich muĂźte irgendeine Bewegung gemacht haben, denn er unterbrach sich.
»Ach, Sie protestieren … ich verstehe, Sie sind begeistert von Indien, von
den Tempeln und den Palmenbäumen, von der ganzen Romantik einer
Zweimonatsreise. Ja, so sind sie zauberhaft, die Tropen, wenn man sie in der
Eisenbahn, im Auto, in der Rikscha durchstreift: ich habe das auch nicht
anders gefĂĽhlt, als ich zum erstenmal herĂĽber kam vor sieben Jahren. Was
träumte ich da nicht alles, die Sprachen wollte ich lernen und die heiligen
BĂĽcher im Urtext lesen, die Krankheiten studieren, wissenschaftlich arbeiten,
die Psyche der Eingeborenen ergründen – so sagt man ja im europäischen
Jargon – ein Missionar der Menschlichkeit, der Zivilisation werden. Alle, die
kommen, träumen denselben Traum. Aber in diesem unsichtbaren Glashaus
dort geht einem die Kraft aus, das Fieber – man kriegts ja doch, mag man
noch so viel Chinin in sich fressen – greift einem ans Mark, man wird schlapp
und faul, wird weich, eine Qualle. Irgendwie ist man als Europäer von seinem
wahren Wesen abgeschnitten, wenn man aus den großen Städten weg in so
eine verfluchte Sumpfstation kommt: auf kurz oder lang hat jeder seinen
Knax weg, die einen saufen, die andern rauchen Opium, die dritten prĂĽgeln
und werden Bestien – irgendeinen Schuß Narrheit kriegt jeder ab. Man sehnt
sich nach Europa, träumt davon, wieder einen Tag auf einer Straße zu gehen,
in einem hellen steinernen Zimmer unter weiĂźen Menschen zu sitzen, Jahr um
Jahr träumt man davon, und kommt dann die Zeit, wo man Urlaub hätte, so ist
man schon zu träge, um zu gehen. Man weiß, drüben ist man vergessen,
fremd, eine Muschel in diesem Meer, auf die jeder tritt. So bleibt man und
versumpft und verkommt in diesen heißen, nassen Wäldern. Es war ein
verfluchter Tag, an dem ich mich in dieses Drecknest verkauft habe …
Ăśbrigens: ganz so freiwillig war das ja auch nicht. Ich hatte in Deutschland
studiert, war recte Mediziner geworden, ein guter Arzt sogar mit einer
Anstellung an der Leipziger Klinik; irgendwo in einem verschollenen
Jahrgang der Medizinischen Blätter haben sie damals viel Aufhebens gemacht
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik