Seite - 40 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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Gesellschaft der Kolonie, vollkommen gesund, die noch abends zuvor auf
dem Regierungsball getanzt hat, liegt plötzlich tot in ihrem Bett … ein
fremder Arzt ist bei ihr, den angeblich ihr Diener gerufen … niemand im
Haus hat gesehen, wann und woher er kam … man hat sie nachts auf einer
Sänfte hereingetragen und dann die Türen geschlossen … und morgens ist sie
tot … dann erst hat man die Diener gerufen, und plötzlich gellt das Haus von
Geschrei … im Nu wissen es die Nachbarn, die ganze Stadt … und nur einer
ist da, der das alles erklären soll … ich, der fremde Mensch, der Arzt aus
einer entlegenen Station … Eine erfreuliche Situation, nicht wahr? …
Ich wuĂźte, was mir bevorstand. GlĂĽcklicherweise war der Boy bei mir, der
brave Bursche, der mir jeden Wink von den Augen las – auch dieses gelbe
dumpfe Tier verstand, daĂź hier noch ein Kampf ausgetragen werden mĂĽsse.
Ich hatte ihm nur gesagt: »Die Frau will, daß niemand erfährt, was geschehen
ist.« Er sah mir in die Augen mit seinem hündisch feuchten und doch
entschlossenen Blick: »Yes, Sir«, mehr sagte er nicht. Aber er wusch die
Blutspuren vom Boden, richtete alles in beste Ordnung – und gerade seine
Entschlossenheit gab mir die meine wieder.
Nie im Leben, das weiß ich, habe ich eine ähnlich zusammengeballte
Energie gehabt, nie werde ich sie wieder haben. Wenn man alles verloren hat,
dann kämpft man um das Letzte wie ein Verzweifelter – und das Letzte war
ihr Vermächtnis, das Geheimnis. Ich empfing voll Ruhe die Leute, erzählte
ihnen allen die gleiche erdichtete Geschichte, wie der Boy, den sie um den
Arzt gesandt hatte, mich zufällig auf dem Wege traf. Aber während ich
scheinbar ruhig redete, wartete … wartete ich immer auf das
Entscheidende … auf den Totenbeschauer, der erst kommen mußte, ehe wir
sie in den Sarg verschließen konnten und das Geheimnis mit ihr … Es war,
vergessen Sie nicht, Donnerstag, und Samstag kam ihr Gatte …
Um neun Uhr hörte ich endlich, wie man den Amtsarzt anmeldete. Ich hatte
ihn rufen lassen – er war mein Vorgesetzter im Rang und gleichzeitig mein
Konkurrent, derselbe Arzt, von dem sie seinerzeit so verächtlich gesprochen
und der offenbar meinen Wunsch nach Versetzung bereits erfahren hatte. Bei
seinem ersten Blick spĂĽrte ichs schon: er war mir Feind. Aber gerade das
straffte meine Kraft.
Im Vorzimmer fragte er schon: »Wann ist Frau … – er nannte ihren Namen
– gestorben?«
»Um sechs Uhr morgens.«
»Wann sandte sie zu Ihnen?«
»Um elf Uhr abends.«
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Buch Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik