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mich leider nicht rechtzeitig gewandt habe, meinen braven Browning … der
hilft schließlich besser als alles Geschwätz … Bitte, bemühen Sie sich
nicht … das einzige Menschenrecht, das einem bleibt, ist doch: zu krepieren
wie man will … und dabei ungeschoren zu bleiben von fremder Hilfe.«
Er sah mich noch einmal höhnisch … ja herausfordernd an, aber ich spürte:
es war nur Scham, grenzenlose Scham. Dann duckte er die Schultern, wandte
sich um, ohne zu grüßen, und ging merkwürdig schief und schlurfend über
das schon helle Verdeck den Kabinen zu. Ich habe ihn nicht mehr gesehen.
Vergebens suchte ich ihn nachts und die nächste Nacht an der gewohnten
Stelle. Er blieb verschwunden, und ich hätte an einen Traum geglaubt oder an
eine phantastische Erscheinung, wäre mir nicht inzwischen unter den
Passagieren ein anderer aufgefallen mit einem Trauerflor um den Arm, ein
holländischer Großkaufmann, der, wie man mir bestätigte, eben seine Frau an
einer Tropenkrankheit verloren hatte. Ich sah ihn ernst und gequält abseits
von den andern auf und ab gehen, und der Gedanke, daß ich um seine
geheimste Sorge wußte, gab mir eine geheimnisvolle Scheu: ich bog immer
zur Seite, wenn er vorüberkam, um nicht mit einem Blick zu verraten, daß ich
mehr von seinem Schicksal wußte als er selbst.
*
Im Hafen von Neapel ereignete sich dann jener merkwürdige Unfall,
dessen Deutung ich in der Erzählung des Fremden zu finden glaube. Die
meisten Passagiere waren abends von Bord gegangen, ich selbst in die Oper
und dann noch in eines der hellen Cafés an der Via Roma. Als wir mit einem
Ruderboot zu dem Dampfer zurückkehrten, fiel mir schon auf, daß einige
Boote mit Fackeln und Azetylenlampen das Schiff suchend umkreisten, und
oben am dunklen Bord war ein geheimnisvolles Gehen und Kommen von
Karabinieris und Gendarmerie. Ich fragte einen Matrosen, was geschehen sei.
Er wich in einer Weise aus, die sofort zeigte, daß Auftrag zum Schweigen
gegeben sei, und auch am nächsten Tage, als das Schiff wieder friedfertig und
ohne Spur eines Zwischenfalles nach Genua weiterfuhr, war nichts an Bord zu
erfahren. Erst in den italienischen Zeitungen las ich dann, romantisch
ausgeschmückt, von jenem angeblichen Unfall im Hafen von Neapel. In jener
Nacht sollte, so schrieben sie, in unbelebter Stunde, um die Passagiere nicht
durch den Anblick zu beunruhigen, der Sarg einer vornehmen Dame aus den
holländischen Kolonien von Bord des Schiffes auf ein Boot gebracht werden,
und man ließ ihn eben in Gegenwart des Gatten die Strickleiter herab, als
irgend etwas Schweres vom hohen Bord niederstürzte und den Sarg mit den
Trägern und dem Gatten, die ihn gemeinsam niederhißten, mit sich in die
Tiefe riß. Eine Zeitung behauptete, es sei ein Irrsinniger gewesen, der sich die
Treppe hinab auf die Strickleiter gestürzt habe, eine andere beschönigte, die
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik