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mich hinein und blieb in mir festgehakt, tief und saugend, daß ich nur ihn
spürte, ihr helles Gesicht darüber entschwand und ich einzig dieses düsternde
Dunkel vor mir fühlte, in das ich stürzte wie in einen Abgrund. Sie machte
noch einen Schritt vor, aber der Blick ließ mich nicht los, blieb in mich
gebohrt wie eine schwarze Lanze, und ich spürte sein Eindringen tiefer und
tiefer. Nun rührte seine Spitze bis an mein Herz, und es stand still. Ein, zwei
Augenblicke hielt sie so den Blick an und ich den Atem, Sekunden, während
derer ich mich machtlos weggerissen fühlte von dem schwarzen Magneten
dieser Pupille. Dann war sie an mir vorbei. Und sofort fühlte ich mein Blut
vorstürzen wie aus einer Wunde und erregt durch den ganzen Körper gehen.
Was – was war das? Wie aus einem Tode wachte ich auf. War das mein
Fieber, das mich so wirr machte, daß ich im flüchtigen Blick einer
Vorübergehenden gleich ganz mich verlor? Aber mir war gewesen, als hätte
ich in diesem Anschauen die gleiche stille Raserei gespürt, die schmachtende,
sinnlose, verdurstende Gier, die sich mir jetzt in allem auftat, im Blick des
roten Mondes, in den lechzenden Lippen der Erde, in der schreienden Qual
der Tiere, dieselbe, die in mir funkelte und bebte. Oh, wie wirr alles
durcheinander ging in dieser phantastischen schwülen Nacht, wie alles
zergangen war in dies eine Gefühl von Erwartung und Ungeduld! War es
mein Wahnsinn, war es der der Welt? Ich war erregt und wollte Antwort
wissen, und so ging ich ihr nach in die Halle. Sie hatte sich dort niedergesetzt
neben ihre Eltern und lehnte still in einem Fauteuil. Unsichtbar war der
gefährliche Blick unter den verhangenen Lidern. Sie las ein Buch, aber ich
glaubte ihr nicht, daß sie lese. Ich war gewiß, daß, wenn sie fühlte wie ich,
wenn sie litt mit der sinnlosen Qual der verschwülten Welt, daß sie nicht
rasten könnte im stillen Betrachten, daß dies ein Verstecken war, ein
Verbergen vor fremder Neugier. Ich setzte mich gegenüber und starrte sie an,
ich wartete fiebernd auf den Blick, der mich bezaubert hatte, ob er nicht
wiederkommen wolle und mir sein Geheimnis lösen. Aber sie rührte sich
nicht. Die Hand schlug gleichgültig Blatt um Blatt im Buche, der Blick blieb
verhangen. Und ich wartete gegenüber, wartete heißer und heißer, irgendeine
rätselhafte Macht des Willens spannte sich, muskelhaft stark, ganz körperlich,
diese Verstellung zu zerbrechen. Zwischen all den Menschen, die dort
gemächlich sprachen, rauchten und Karten spielten, hub nun ein stummes
Ringen an. Ich spürte, daß sie sich weigerte, daß sie es sich versagte,
aufzuschauen, aber je mehr sie widerstrebte, desto stärker wollte es mein
Trotz, und ich war stark, denn in mir war die Erwartung der ganzen
lechzenden Erde und die dürstende Glut der enttäuschten Welt. Und so wie an
meine Poren noch immer die feuchte Schwüle der Nacht, so drängte sich mein
Wille gegen den ihren, und ich wußte, sie müßte mir nun bald einen Blick
hergeben, sie müßte es. Rückwärts im Saale begann jemand Klavier zu
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Buch Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik