Seite - 57 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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spielen. Die Töne perlten leise herüber, auf und ab in flüchtigen Skalen,
drüben lachte jetzt eine Gesellschaft lärmend über irgendeinen albernen
Scherz, ich hörte alles, fühlte alles, was geschah, ohne aber für eine Minute
nachzulassen. Ich zählte jetzt laut vor mich hin die Sekunden, während ich an
ihren Lidern zog und sog, während ich von ferne durch die Hypnose des
Willens ihren störrisch niedergebeugten Kopf aufheben wollte. Minute auf
Minute rollte vorüber – immer perlten die Töne von drüben dazwischen – und
schon spürte ich, daß meine Kraft nachließ – da plötzlich hob sie mit einem
Ruck sich auf und sah mich an, gerade hin auf mich. Wieder war es der
gleiche Blick, der nicht endete, ein schwarzes, furchtbares, saugendes Nichts,
ein Durst, der mich einsog, ohne Widerstand. Ich starrte in diese Pupillen
hinein wie in die schwarze Höhlung eines photographischen Apparates und
spürte, daß er zuerst mein Gesicht nach innen zog in das fremde Blut hinein
und ich wegstürzte von mir; der Boden schwand unter meinen Füßen, und ich
empfand die ganze Süße des schwindelnden Sturzes. Hoch oben über mir
hörte ich noch die klingenden Skalen auf und nieder rollen, aber schon wußte
ich nicht mehr, wo mir dies geschah. Mein Blut war weggeströmt, mein Atem
stockte. Schon spürte ich, wie es mich würgte, diese Minute oder Stunde oder
Ewigkeit – da schlugen ihre Lider wieder zu. Ich tauchte auf wie ein
Ertrinkender aus dem Wasser, frierend, geschüttelt von Fieber und Gefahr.
Ich sah um mich. Mir gegenüber saß unter den Menschen, still über ein
Buch gebeugt, bloß mehr ein schlankes junges Mädchen, regungslos, bildhaft,
nur leise unter dem dünnen Gewand wippte das Knie. Auch meine Hände
zitterten. Ich wußte, daß jetzt dieses wollüstige Spiel von Erwartung und
Widerstand wieder beginnen sollte, daß ich Minuten angespannt fordern
mußte, um dann plötzlich wieder so in schwarze Flammen getaucht zu
werden von einem Blick. Meine Schläfen waren feucht, in mir siedete das
Blut. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich stand auf, ohne mich
umzuwenden, und ging hinaus.
Weit war die Nacht vor dem glänzenden Haus. Das Tal schien versunken,
und der Himmel glänzte feucht und schwarz wie nasses Moos. Auch hier war
keine Kühlung, noch immer nicht, überall auch hier das gleiche, gefährliche
Sichgatten von Dürsten und Trunkenheit, das ich im Blute spürte. Etwas
Ungesundes, Feuchtes, wie die Ausdünstung eines Fiebernden, lag über den
Feldern, die milchweißen Dunst brauten, ferne Feuer zuckten und geisterten
durch die schwere Luft, und um den Mond lag ein gelber Ring und machte
seinen Blick bös. Ich fühlte mich müde wie nie. Ein geflochtener Stuhl, noch
vom Tag her vergessen, stand da: ich warf mich hinein. Die Glieder fielen von
mir ab, regungslos streckte ich mich hin. Und da, nur nachgebend
angeschmiegt an das weiche Rohr, empfand ich mit einemmal die Schwüle als
wunderbar. Sie quälte nicht mehr, sie drängte sich nur an, zärtlich und
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik