Seite - 59 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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den Lidern. Noch glänzte in mir der weiße, glühende Tag, noch fieberte in mir
diese flirrende, feuchte, funkelnde, phantastische Nacht! Aber ich konnte hier
im Flur nicht bleiben, es war alles dunkel und verlassen. So ging ich die
Treppe hinauf und wollte doch nicht. Irgendein Widerstand war in mir, den
ich nicht zu zähmen wußte. Ich war müde, und doch fühlte ich mich zu früh
für den Schlaf. Irgendeine geheimnisvolle, hellsichtige Witterung verhieß mir
noch Abenteuerliches, und meine Sinne streckten sich vor, Lebendiges,
Warmes zu erspähen. Wie mit feinen, gelenkigen Fühlern drang es aus mir in
den Treppengang, rührte an alle Gemächer, und wie früher hinaus in die
Natur, so warf ich jetzt mein ganzes Fühlen in das Haus, und ich spürte den
Schlaf, das gemächliche Atemgehen vieler Menschen darin, das schwere,
traumlose Wogen ihres dicken schwarzen Blutes, ihre einfältige Ruhe und
Stille, aber doch auch das magnetische Ziehen irgendeiner Kraft. Ich ahnte
irgend etwas, das wach war wie ich. War es jener Blick, war es die
Landschaft, die diesen seinen purpurnen Wahnsinn in mich getan? Ich glaubte
irgend etwas Weiches durch Wall und Wand zu spüren, eine kleine Flamme
von Unruhe in mir zitterte und lockte im Blut und brannte nicht aus.
Widerwillig ging ich die Treppe hinauf und blieb doch immer stehen auf jeder
Stufe und horchte aus mir heraus; nicht mit dem Ohr nur, sondern mit allen
Sinnen. Nichts wäre mir wunderlich gewesen, alles in mir lauerte noch auf ein
Unerhörtes, Seltsames, denn ich wußte, die Nacht konnte nicht enden ohne
ein Wunderbares, diese Schwüle nicht enden ohne den Blitz. Noch einmal
war ich, wie ich da horchend auf dem Treppengeländer stand, die ganze Welt
draußen, die sich reckte in ihrer Ohnmacht und nach dem Gewitter schrie.
Aber nichts rührte sich. Nur leiser Atem zog durch das windstille Haus. Müde
und enttäuscht ging ich die letzten Stufen hinauf, und mir graute vor meinem
einsamen Zimmer wie vor einem Sarg.
Die Klinke schimmerte unsicher aus dem Dunkel, feucht und warm zu
fassen. Ich öffnete die Tür. Rückwärts stand das Fenster offen und tat ein
schwarzes Viereck von Nacht auf, gedrängte Tannenwipfel drüben vom Wald
und dazwischen ein Stück des verwölkten Himmels. Dunkel war alles außen
und innen, die Welt und das Zimmer, nur – seltsam und unerklärlich – am
Fensterrahmen glänzte etwas Schmales, Aufrechtes wie ein verlorener
Streifen Mondschein. Ich trat verwundert näher, zu sehen, was da so hell
schimmerte in mondverhangener Nacht. Ich trat näher, und da regte sichs. Ich
erstaunte: aber doch, ich erschrak nicht, denn etwas war in dieser Nacht in mir
wunderlich dem Phantastischesten bereit, alles schon vorher gedacht und
traumbewußt. Keine Begegnung wäre mir sonderbar gewesen und diese am
wenigsten, denn wirklich: sie war es, die dort stand, sie, an die ich unbewußt
gedacht, bei jeder Stufe, bei jedem Schritt in dem schlafenden Haus, und
deren Wachheit meine aufgefunkelten Sinne durch Diele und Tür gespürt. Nur
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Buch Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik