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mit einer gewissen Beschämung, die sich bewußt werdend rasch zu einem
inneren Erschrecken steigerte. Denn nichts von allen den starken und doch
natürlichen Empfindungen, die meine Geliebte als selbstverständlich
voraussetzte, hatte sich auch nur andeutungshaft in mir geregt. Ich hatte nicht
gelitten bei ihrer Mitteilung, hatte ihr nicht gezürnt und schon gar nicht eine
Sekunde an eine Gewalttätigkeit gegen sie oder gegen mich gedacht, und
diese Kälte des Gefühls in mir war nun doch zu sonderbar, als daß sie mich
nicht selbst erschreckt hätte. Da fiel eine Frau von mir ab, die Jahre meines
Lebens begleitet hatte, deren warmer Leib sich elastisch dem meinen
aufgetan, deren Atem in langen Nächten in meinen vergangen war, und nichts
rührte sich in mir, wehrte sich dagegen, nichts suchte sie zurückzuerobern,
nichts von all dem geschah in meinem Gefühl von dem, was der reine Instinkt
dieser Frau als selbstverständlich bei einem wirklichen Menschen
voraussetzen mußte. In diesem Augenblicke war mir zum ersten Male ganz
bewußt, wie weit der Erstarrungsprozeß in mir fortgeschritten war – ich glitt
eben durch wie auffließendem, spiegelndem Wasser, ohne irgend verhaftet,
verwurzelt zu sein, und ich wußte ganz genau, daß diese Kälte etwas Totes,
Leichenhaftes war, noch nicht umwittert zwar vom faulen Hauch der
Verwesung, aber doch schon rettungslose Starre, grausam-kalte Fühllosigkeit,
die Minute also, die dem wahren, dem körperlichen Sterben, dem auch
äußerlich sichtbaren Verfall vorangeht. Seit jener Episode begann ich mich
und diese merkwürdige Gefühlsstarre in mir aufmerksam zu beobachten wie
ein Kranker seine Krankheit. Als kurz darauf ein Freund von mir starb und
ich hinter seinem Sarge ging, horchte ich in mich hinein, ob sich nicht eine
Trauer in mir rühre, irgendein Gefühl sich in dem Bewußtsein spanne, dieser
mir seit Kindheitstagen nahe Mensch sei nun für immer verloren. Aber es
regte sich nichts, ich kam mir selbst wie etwas Gläsernes vor, durch das die
Dinge hindurchleuchteten, ohne jemals innen zu sein, und so sehr ich mich
bei diesem Anlaß und manchen ähnlichen auch anstrengte, etwas zu fühlen, ja
mich mit Verstandesgründen zu Gefühlen überreden wollte, es kam keine
Antwort aus jener inneren Starre zurück. Menschen verließen mich, Frauen
gingen und kamen, ich spürte es kaum anders wie einer, der im Zimmer sitzt,
den Regen an den Scheiben, zwischen mir und dem Unmittelbaren war
irgendeine gläserne Wand, die ich mit dem Willen zu zerstoßen nicht die
Kraft hatte.
Obzwar ich dies nun klar empfand, so schuf mir diese Erkenntnis doch
keine rechte Beunruhigung, denn ich sagte es ja schon, daß ich auch Dinge,
die mich selbst betrafen, mit Gleichgültigkeit hinnahm. Auch zum Leiden
hatte ich nicht mehr genug Gefühl. Es genügte mir, daß dieser seelische
Defekt außen so wenig wahrnehmbar war, wie etwa die körperliche Impotenz
eines Mannes nicht anders als in der intimen Sekunde offenbar wird, und ich
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Buch Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik