Seite - 72 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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setzte oft in Gesellschaft durch eine künstliche Leidenschaftlichkeit im
Bewundern, durch spontane Übertreibungen von Ergriffenheit eine gewisse
Ostentation daran, zu verbergen, wie sehr ich mich innerlich anteilslos und
abgestorben wußte. Äußerlich lebte ich mein altes behagliches,
hemmungsloses Leben weiter, ohne seine Richtung zu ändern; Wochen,
Monate glitten leicht vorüber und füllten sich langsam dunkel zu Jahren.
Eines Morgens sah ich im Spiegel einen grauen Streif an meiner Schläfe und
spürte, daß meine Jugend langsam hinüber wollte in eine andere Welt. Aber
was andere Jugend nannten, war in mir längst vorbei. So tat das
Abschiednehmen nicht sonderlich weh, denn ich liebte auch meine eigene
Jugend nicht genug. Auch zu mir selbst schwieg mein trotziges Gefühl.
Durch diese innere Unbewegtheit wurden meine Tage immer mehr
gleichförmig trotz aller Verschiedenheit der Beschäftigungen und
Begebenheiten, sie reihten sich unbetont einer an den anderen, wuchsen und
gilbten hin wie die Blätter eines Baumes. Und ganz gewöhnlich, ohne jede
Absonderlichkeit, ohne jedes innere Vorzeichen, begann auch jener einzige
Tag, den ich mir wieder selbst schildern will. Ich war damals am 7. Juni 1913
später aufgestanden, aus dem noch von der Kindheit, von den Schuljahren her
unbewußt nachklingenden Sonntagsgefühl, hatte mein Bad genommen, die
Zeitung gelesen und in Büchern geblättert, war dann, verlockt von dem
warmen sommerlichen Tag, der teilnehmend in mein Zimmer drang,
spazierengegangen, hatte in gewohnter Weise den Grabenkorso überquert,
zwischen Gruß und Gruß bekannter und befreundeter Menschen mit
irgendeinem von ihnen ein flüchtiges Gespräch geführt und dann bei
Freunden zu Mittag gespeist. Für den Nachmittag war ich jeder Vereinbarung
ausgewichen, denn ich liebte es insbesondere, am Sonntag ein paar
unaufgeteilte freie Stunden zu haben, die dann ganz dem Zufall meiner
Laune, meiner Bequemlichkeit oder irgendeiner spontanen Entschließung
gehörten. Als ich dann, von meinen Freunden kommend, die Ringstraße
querte, empfand ich wohltuend die Schönheit der besonnten Stadt und ward
froh an ihrer frühsommerlichen Geschmücktheit. Die Menschen schienen alle
heiter und irgendwie verliebt in die Sonntäglichkeit der bunten Straße, vieles
einzelne fiel mir auf und vor allem, wie breitumbuscht mit ihrem neuen Grün
die Bäume mitten aus dem Asphalt sich aufhoben. Obwohl ich doch fast
täglich hier vorüberging, wurde ich dieses sonntäglichen Menschengewühls
plötzlich wie eines Wunders gewahr, und unwillkürlich bekam ich Sehnsucht
nach viel Grün, nach Helligkeit und Buntheit. Ich erinnerte mich mit ein
wenig Neugier des Praters, wo jetzt zu Frühlingsende, zu Sommersanfang, die
schweren Bäume wie riesige grüne Lakaien rechts und links der von Wagen
durchflitzten Hauptallee stehen und reglos den vielen geputzten eleganten
Menschen ihre weißen Blütenherzen hinhalten. Gewohnt, auch dem
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Buch Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik