Seite - 88 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
Bild der Seite - 88 -
Text der Seite - 88 -
aus ihrer Nähe zu kommen.
Weich glitt auf den Gummirädern der Fiaker dahin zwischen den vielen
andern, die wie Blumenboote mit ihrer bunten Fracht von Frauen an den
grünen Ufern der Kastanienallee vorbeischaukelten. Die Luft war weich und
süß, schon wehte von erster Abendkühle manchmal ein leiser Duft durch den
Staub herüber. Aber das frühere wohlig-träumerische Gefühl kam nicht
wieder: die Begegnung mit dem Geprellten hatte mich peinlich aufgerissen.
Wie ein kalter Luftzug durch eine Fuge drang es mit einmal in meine
überhitzte Leidenschaft. Ich dachte jetzt noch einmal nüchtern die ganze
Szene durch und begriff mich selbst nicht mehr: ich, ein Gentleman, ein
Mitglied der besten Gesellschaft, Reserveoffizier, hochgeachtet, hatte ohne
Not gefundenes Geld an mich genommen, in die Brieftasche gesteckt, ja dies
sogar mit einer gierigen Freude, einer Lust getan, die jede Entschuldigung
hinfällig machte. Ich, der ich vor einer Stunde noch ein korrekter, makelloser
Mensch gewesen war, hatte gestohlen. Ich war ein Dieb. Und gleichsam, um
mich selbst zu erschrecken, sagte ich mir mein Urteil halblaut hin, während
der Wagen leise trabte, unbewußt im Rhythmus des Hufschlags sprechend:
»Dieb! Dieb! Dieb! Dieb!« Aber seltsam, wie soll ich beschreiben, was jetzt
geschah, es ist ja so unerklärlich, so ganz absonderlich, und doch weiß ich,
daß ich mir nichts nachträglich vortäusche. Jede Sekunde meines Gefühls,
jede Oszillation meines Denkens in jenen Augenblicken ist mir ja mit einer so
übernatürlichen Deutlichkeit bewußt, wie kaum irgendein Erlebnis meiner
sechsunddreißig Jahre, und doch wage ich kaum, diese absurde Reihenfolge,
diese verblüffende Schwankung meines Empfindens bewußt zu machen, ja
ich weiß nicht, ob irgendein Dichter, ein Psychologe das logisch zu schildern
vermöchte. Ich kann nur die Reihenfolge aufzeichnen, ganz getreu ihrem
unvermuteten Aufleuchten nach. Also: ich sagte zu mir »Dieb, Dieb, Dieb«.
Dann kam ein ganz merkwürdiger, ein gleichsam leerer Augenblick, ein
Augenblick, wo nichts geschah, wo ich nur – ach, wie schwer ist es, dies
auszudrücken – wo ich nur horchte, in mich hineinhorchte. Ich hatte mich
angerufen, hatte mich angeklagt, nun sollte dem Richter der Angeschuldigte
antworten. Ich horchte also, und es geschah – nichts. Der Peitschenschlag
dieses Wortes »Dieb«, von dem ich erwartet hatte, es werde mich
aufschrecken und dann hinstürzen lassen in eine namenlose, eine zerknirschte
Scham, weckte nichts auf. Ich wartete geduldig einige Minuten, ich beugte
mich dann gewissermaßen noch näher über mich selbst – denn ich spürte zu
wohl, daß unter diesem trotzigen Schweigen etwas sich regte – und horchte
mit einer fieberhaften Erwartung auf das ausbleibende Echo, auf den Schrei
des Ekels, der Entrüstung, der Verzweiflung, der dieser Selbstanschuldigung
folgen mußte. Und es geschah wiederum nichts. Nichts antwortete. Nochmals
sagte ich mir das Wort »Dieb«, »Dieb«, nun schon ganz laut, um endlich in
88
zurück zum
Buch Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik