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Amok - Novellen einer Leidenschaft
Seite - 89 -
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Seite - 89 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft

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mir das schwerhörige, das gelähmte Gewissen aufzuwecken. Wieder kam keine Antwort. Und plötzlich – in einem grellen Blitzlicht des Bewußtseins, wie wenn plötzlich ein Streichholz angezündet und über die dämmernde Tiefe gehalten wäre – erkannte ich, daß ich mich nur schämen wollte, aber nicht schämte, ja, daß ich in jener Tiefe irgendwie geheimnisvoll stolz, sogar beglückt war von dieser törichten Tat. Wie war das möglich? Ich wehrte mich, jetzt wirklich vor mir selbst erschreckend, gegen diese unerwartete Erkenntnis, aber zu schwellend, zu ungestüm wogte das Gefühl aus mir auf. Nein, das war nicht Scham, nicht Empörung, nicht Selbstekel, was so warm mir im Blut gärte – das war Freude, trunkene Freude, die in mir aufloderte, ja funkelte mit hellen spitzen Flammen von Übermut, denn ich spürte, daß ich in jenen Minuten zum erstenmal seit Jahren und Jahren wirklich lebendig, daß mein Gefühl nur gelähmt gewesen und noch nicht abgestorben war, daß irgendwo unter der versandeten Fläche meiner Gleichgültigkeit also doch noch jene heißen Quellen von Leidenschaft geheimnisvoll gingen und nun, von der Wünschelrute des Zufalls berührt, hoch bis in mein Herz hinaufgepeitscht waren. Auch in mir, auch in mir, in diesem Stück atmenden Weltalls, glühte also noch jener geheimnisvolle vulkanische Kern alles Irdischen, der manchmal vorbricht in den wirbelnden Stößen von Begier, auch ich lebte, war lebendig, war ein Mensch mit bösem und warmem Gelüst. Eine Tür war aufgerissen vom Sturm dieser Leidenschaft, eine Tiefe aufgetan in mich hinein, und ich starrte in wollüstigem Schwindel hinab in dies Unbekannte in mir, das mich erschreckte und beseligte zugleich. Und langsam – während der Wagen lässig meinen träumenden Körper durch die bürgerlich-gesellschaftliche Welt hinrollte – stieg ich, Stufe um Stufe, hinab in die Tiefe des Menschlichen in mir, unsäglich allein in diesem schweigenden Gang, nur überhöht von der aufgehobenen grellen Fackel meines jäh entzündeten Bewußtseins. Und indes tausend Menschen um mich lachend und schwatzend wogten, suchte ich mich, den verlorenen Menschen, in mir, tastete ich Jahre ab in dem magischen Gang des Besinnens. Ganz verschollene Dinge tauchten plötzlich aus den verstaubten und erblindeten Spiegeln meines Lebens auf, ich erinnerte mich, schon einmal als Schulknabe einem Kameraden ein Taschenmesser gestohlen und mit der gleichen teuflischen Freude ihm zugesehen zu haben, wie er es überall suchte, alle fragte und sich mühte; ich verstand mit einemmal das geheimnisvoll Gewitternde mancher sexuellen Stunden, verstand, daß meine Leidenschaft nur verkrümmt, nur zertreten gewesen war von dem gesellschaftlichen Wahn, von dem herrischen Ideal der Gentlemen – daß aber auch in mir, nur tief, ganz tief unten in verschütteten Brunnen und Röhren die heißen Ströme des Lebens gingen wie in allen andern. Oh, ich hatte ja immer gelebt, nur nicht gewagt zu leben, ich hatte mich verschnürt und verborgen 89
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Amok Novellen einer Leidenschaft
Titel
Amok
Untertitel
Novellen einer Leidenschaft
Autor
Stefan Zweig
Datum
1922
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
158
Kategorien
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