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Strand eures bürgerlichen Wohlseins. Ich habe zum erstenmal alles gefühlt,
was in den Menschen an Lust im Guten und Bösen getan ist, aber nie werdet
ihr wissen, wo ich war, nie mich erkennen: Menschen, was wißt ihr von
meinem Geheimnis!
Wie vermöchte ich es auszudrücken, was ich in jener Stunde fühlte, indes
ich, ein elegant angezogener Gentleman, mit kühlem Gesicht grüßend und
dankend zwischen den Wagenreihen durchfuhr! Denn während meine Larve,
der äußere, der frühere Mensch, noch Gesichter fühlte und erkannte, rauschte
innen in mir eine so taumelnde Musik, daß ich mich niederdrücken mußte, um
nicht etwas herauszuschreien von diesem tosenden Tumult. Ich war so voll
von Gefühl, daß mich dieser innere Schwall physisch quälte, daß ich wie ein
Erstickender die Hand gewaltsam an die Brust pressen mußte, unter der das
Herz schmerzhaft gärte. Aber Schmerz, Lust, Erschrecken, Entsetzen oder
Bedauern, nichts fühlte ich einzeln und abgerissen, alles schmolz zusammen,
ich spürte nur, daß ich lebte, daß ich atmete und fühlte. Und dieses
Einfachste, dieses urhafte Gefühl, das ich seit Jahren nicht empfunden,
machte mich trunken. Nie hatte ich mich selbst auch nur eine Sekunde meiner
sechsunddreißig Jahre so ekstatisch als lebendig empfunden als in der
Schwebe dieser Stunde.
Mit einem leichten Ruck hielt der Wagen an: der Kutscher hatte die Pferde
angezügelt, wandte sich vom Bock und fragte, ob er nach Hause fahren solle.
Ich taumelte aus mir heraus, hob die Blicke über die Allee hin: mit
Betroffenheit merkte ich, wie lange ich geträumt, wie weit die Trunkenheit
über die Stunden sich ausgegossen hatte. Es war dunkel geworden, ein
Weiches wogte in den Kronen der Bäume, die Kastanien begannen ihren
abendlichen Duft durch die Kühle zu atmen. Und hinter den Wipfeln silberte
schon ein verschleierter Blick von Mond. Es war genug, es mußte genug sein.
Aber nur nicht jetzt nach Hause, nur nicht in meine gewohnte Welt!Ich
bezahlte den Kutscher. Als ich die Briestasche zog und die Banknoten
zählend zwischen die Finger nahm, liefs wie ein leiser elektrischer Schlag mir
vom Gelenk in die Fingerspitzen: irgend etwas in mir mußte noch wach sein
also vom alten Menschen, der sich schämte. Noch zuckte das absterbende
Gentlemansgewissen, doch ganz heiter blätterte schon wieder meine Hand im
gestohlenen Gelde, und ich war freigebig aus meiner Freude. Der Kutscher
bedankte sich so überschwenglich, daß ich lächeln mußte: wenn du wüßtest!
Die Pferde zogen an, der Wagen fuhr fort. Ich sah ihm nach, wie man vom
Schiff noch einmal auf einen Strand zurückblickt, an dem man glücklich
gewesen.
Einen Augenblick stand ich so träumerisch und ratlos mitten in der
murmelnden, lachenden, musiküberwogten Menge: es mochte etwa sieben
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Buch Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik