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rasend rennt, um dem ungeheuren Druck zu entlaufen, der ihr im nächsten
Augenblicke schon den Brustkessel sprengen muß. In den Fingerspitzen
zuckte, in den Schläfen pochte, in der Kehle preßte, an den Schläfen würgte
das angehitzte Blut – von einer jahrelangen Lauheit des Gefühls war ich mit
einemmal in ein Fieber gestürzt, das mich verbrannte. Ich fühlte, daß ich mich
jetzt auftun müßte, aus mir heraus mit einem Wort, mit einem Blick, mich
mitteilen, mich ausströmen, mich weggeben, mich hingeben, mich gemein
machen, mich lösen, – irgendwie retten aus dieser harten Kruste von
Schweigen, die mich absonderte von dem warmen, flutenden, lebendigen
Element. Seit Stunden hatte ich nicht gesprochen, niemandes Hand gedrückt,
niemandes Blick fragend und teilnehmend gegen den meinen gespürt, und
nun staute, unter dem Sturz der Geschehnisse, sich diese Erregung gegen das
Schweigen. Niemals, niemals hatte ich so sehr das Bedürfnis nach
Mitteilsamkeit, nach einem Menschen gehabt, als jetzt, da ich inmitten von
Tausenden und Zehntausenden wogte, rings angespült war von Wärme und
Worten, und doch abgeschnürt von dem kreisenden Adergang dieser Fülle.
Ich war wie einer, der auf dem Meere verdurstet. Und dabei sah ich, diese
Qual mit jedem Blick mehrend, wie rechts und links in jeder Sekunde
Fremdes sich anstreifend band, die Quecksilberkügelchen gleichsam spielend
zusammenliefen. Ein Neid kam mich an, wenn ich sah, wie junge Burschen
im Vorübergehen fremde Mädchen ansprachen und sie nach dem ersten Wort
schon unterfaßten, wie alles sich fand und zusammentat: ein Gruß beim
Karussell, ein Blick im Anstreifen genügte schon, und Fremdes schmolz in
ein Gespräch, vielleicht um sich wieder zu lösen nach ein paar Minuten, aber
doch es war Bindung, Vereinigung, Mitteilung, war das, wonach alle meine
Nerven jetzt brannten. Ich aber, gewandt im gesellschaftlichen Gespräch,
beliebter Causeur und sicher in den Formen, ich verging vor Angst, ich
schämte mich, irgendeines dieser breithüftigen Dienstmädchen anzureden, aus
Furcht, sie möchte mich verlachen, ja ich schlug die Augen nieder, wenn
jemand mich zufällig anschaute, und verging doch innen vor Begierde nach
dem Wort. Was ich wollte von den Menschen, war mir ja selbst nicht klar, ich
ertrug es nur nicht länger, allein zu sein und an meinem Fieber zu verbrennen.
Aber alle sahen an mir vorbei, jeder Blick strich mich weg, niemand wollte
mich spüren. Einmal trat ein Bursch in meine Nähe, zwölfjährig, mit
zerlumpten Kleidern: sein Blick war grell erhellt vom Widerschein der
Lichter, so sehnsüchtig starrte er auf die schwingenden Holzpferde. Sein
schmaler Mund stand offen wie lechzend: offenbar hatte er kein Geld mehr,
um mitzufahren, und sog nur Lust aus dem Schreien und Lachen der andern.
Ich stieß mich gewaltsam heran an ihn und fragte – aber warum zitterte meine
Stimme so dabei und war ganz grell überschlagen? –: »Möchten Sie nicht
auch einmal mitfahren?« Er starrte auf, erschrak – warum? warum? – wurde
blutrot und lief fort, ohne ein Wort zu sagen. Nicht einmal ein barfüßiges
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Buch Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik