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das Dunkelste meiner Vergangenheit, das Geheimste meines Triebes in mir
nun offen lag! Dumpfes Gefühl stieg auf verschütteter Knabenjahre, wo
scheuer Blick neugierig angezogen und doch feig verstört an solchen
Gestalten gehaftet, Erinnerung an die Stunde, wo man zum erstenmal auf
knarrender, feuchter Treppe einer hinaufgefolgt war in ihr Bett – und
plötzlich, als ob Blitz einen Nachthimmel zerteilt hätte, sah ich scharf jede
Einzelheit jener vergessenen Stunde, den flachen Öldruck über dem Bett, das
Amulett, das sie auf dem Halse trug, ich spürte jede Fiber von damals, die
ungewisse Schwüle, den Ekel und den ersten Knabenstolz. All das wogte mir
mit einem Male durch den Körper. Eine Hellsichtigkeit ohne Maß strömte
plötzlich in mich ein, und – wie soll ich das sagen können, dies Unendliche! –
ich verstand mit einemmal alles, was mich mit so brennendem Mitleid jenen
verband, gerade weil sie der letzte Abschaum des Lebens waren, und mein
von dem Verbrechen einmal angereizter Instinkt spürte von innen heraus
dieses hungrige Lungern, das dem meinen in dieser phantastischen Nacht so
ähnlich war, dies verbrecherische Offenstehn jeder Berührung, jeder fremden
zufällig anstreifenden Lust. Magnetisch zog es mich hin, die Brieftasche mit
dem gestohlenen Geld brannte plötzlich heiß über der Brust, wie ich da
drüben endlich Wesen, Menschen, Weiches, Atmendes, Sprechendes spürte,
das von andern Wesen, vielleicht auch von mir, etwas wollte, von mir, der nur
wartete, sich wegzugeben, der verbrannte in seiner rasenden Willigkeit nach
Menschen. Und mit einmal verstand ich, was Männer zu solchen Wesen
treibt, verstand, daß es selten nur Hitze des Blutes ist, ein schwellender Kitzel
ist, sondern meist bloß die Angst vor der Einsamkeit, vor der entsetzlichen
Fremdheit, die sonst zwischen uns sich auftürmt und die mein entzündetes
Gefühl heute zum erstenmal fühlte. Ich erinnerte mich, wann ich zum
letztenmal dies dumpf empfunden: in England war es gewesen, in
Manchester, einer jener stählernen Städte, die in einem lichtlosen Himmel von
Lärm brausen wie eine Untergrundbahn und die doch gleichzeitig einen Frost
von Einsamkeit haben, der durch die Poren bis ins Blut dringt. Drei Wochen
hatte ich dort bei Verwandten gelebt, abends immer allein irrend durch Bars
und Klubs und immer wieder in die glitzernde Musikhall, nur um etwas
menschliche Wärme zu spüren. Und da eines Abends hatte ich so eine Person
gefunden, deren Gassenenglisch ich kaum verstand, aber plötzlich war man in
einem Zimmer, trank Lachen von einem fremden Mund, ein warmer Körper
war da, irdisch nahe und weich. Plötzlich schmolz sie weg, die kalte schwarze
Stadt, der finstere lärmende Raum von Einsamkeit, irgendein Wesen, das man
nicht kannte, das nur dastand und wartete auf jeden, der kam, löste einen auf,
ließ allen Trost Wegtauen: man atmete wieder frei, spürte Leben in leichter
Helligkeit inmitten des stählernen Kerkers. Wie wunderbar war das für die
Einsamen, die Abgesperrten in sich selbst, dies zu wissen, dies zu ahnen, daß
ihrer Angst immer doch irgendein Halt ist, sich festzuklammern an ihn, mag
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik