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Amok - Novellen einer Leidenschaft
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neben einem hölzern Dastehenden zu warten. Ich erschrak. Mir wurde plötzlich ganz kalt. Warum hatte ich sie fortgehen lassen, den einzigen Menschen dieser phantastischen Nacht, der mir entgegengekommen, der mir aufgetan war? Hinter mir löschten die Lichter, prasselnd knatterten die Rollbalken herab. Es war zu Ende. Und plötzlich – ach, wie mir selbst diesen heißen, diesen jäh aufspringenden Gischt schildern? – plötzlich – es kam so jäh, so heiß, so rot, als ob mir eine Ader in der Brust geplatzt wäre – plötzlich brach aus mir, dem stolzen, dem hochmütigen, ganz in kühler, gesellschaftlicher Würde verschanzten Menschen wie ein stummes Gebet, wie ein Krampf, wie ein Schrei, der kindische und mir doch so ungeheure Wunsch, diese kleine, schmutzige, rachitische Hure möchte nur noch einmal den Kopf wenden, damit ich zu ihr sprechen könnte. Denn ihr nachzugehen war ich nicht zu stolz – mein Stolz war zerstampft, zertreten, weggeschwemmt von ganz neuen Gefühlen aber zu schwach, zu ratlos. Und so stand ich da, zitternd und durchwühlt, hier allein an dem Marterpfosten der Dunkelheit, wartend wie ich nie gewartet hatte seit meinen Knabenjahren, wie ich nur einmal an einem abendlichen Fenster gestanden, als eine fremde Frau langsam sich auszukleiden begann und immer zögerte und verweilte in ihrer ahnungslosen Entblößung – ich stand, zu Gott aufschreiend mit irgendeiner mir selbst unbekannten Stimme um das Wunder, dieses krüppelige Ding, dieser letzte Abhub Menschheit möge es noch einmal mit mir versuchen, noch einmal den Blick rückwenden zu mir. Und – sie wandte sich. Einmal noch, ganz mechanisch blickte sie zurück. Aber so stark mußte mein Aufzucken, das Vorspringen meines gespannten Gefühls in dem Blick gewesen sein, daß sie beobachtend stehen blieb. Sie wippte noch einmal halb herum, sah mich durch das Dunkel an, lächelte und winkte mit dem Kopf einladend hinüber gegen die verschattete Seite des Platzes. Und endlich fühlte ich den entsetzlichen Bann der Starre in mir weichen. Ich konnte mich wieder regen und nickte ihr bejahend zu. Der unsichtbare Pakt war geschlossen. Nun ging sie voraus über den dämmerigen Platz, von Zeit zu Zeit sich umwendend, ob ich ihr nachkäme. Und ich folgte: das Blei war von meinen Knien gefallen, ich konnte wieder die Füße regen. Magnetisch stieß es mich nach, ich ging nicht bewußt, sondern strömte gleichsam, von geheimnisvoller Macht gezogen, hinter ihr her. Im Dunkel der Gasse zwischen den Buden verlangsamte sie den Schritt. Nun stand ich neben ihr. Sie sah mich einige Sekunden an, prüfend und mißtrauisch: etwas machte sie unsicher. Offenbar war ihr mein seltsam scheues Dastehen, der Kontrast des Ortes und meiner Eleganz, irgendwie verdächtig. Sie blickte sich mehrmals um, zögerte. Dann sagte sie in die Verlängerung der Gasse deutend, 101
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Amok Novellen einer Leidenschaft
Titel
Amok
Untertitel
Novellen einer Leidenschaft
Autor
Stefan Zweig
Datum
1922
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
158
Kategorien
Weiteres Belletristik
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