Seite - 101 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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neben einem hölzern Dastehenden zu warten. Ich erschrak. Mir wurde
plötzlich ganz kalt. Warum hatte ich sie fortgehen lassen, den einzigen
Menschen dieser phantastischen Nacht, der mir entgegengekommen, der mir
aufgetan war? Hinter mir löschten die Lichter, prasselnd knatterten die
Rollbalken herab. Es war zu Ende. Und plötzlich – ach, wie mir selbst diesen
heißen, diesen jäh aufspringenden Gischt schildern? – plötzlich – es kam so
jäh, so heiß, so rot, als ob mir eine Ader in der Brust geplatzt wäre – plötzlich
brach aus mir, dem stolzen, dem hochmütigen, ganz in kühler,
gesellschaftlicher Würde verschanzten Menschen wie ein stummes Gebet, wie
ein Krampf, wie ein Schrei, der kindische und mir doch so ungeheure
Wunsch, diese kleine, schmutzige, rachitische Hure möchte nur noch einmal
den Kopf wenden, damit ich zu ihr sprechen könnte. Denn ihr nachzugehen
war ich nicht zu stolz – mein Stolz war zerstampft, zertreten,
weggeschwemmt von ganz neuen Gefühlen aber zu schwach, zu ratlos. Und
so stand ich da, zitternd und durchwühlt, hier allein an dem Marterpfosten der
Dunkelheit, wartend wie ich nie gewartet hatte seit meinen Knabenjahren, wie
ich nur einmal an einem abendlichen Fenster gestanden, als eine fremde Frau
langsam sich auszukleiden begann und immer zögerte und verweilte in ihrer
ahnungslosen Entblößung – ich stand, zu Gott aufschreiend mit irgendeiner
mir selbst unbekannten Stimme um das Wunder, dieses krüppelige Ding,
dieser letzte Abhub Menschheit möge es noch einmal mit mir versuchen,
noch einmal den Blick rückwenden zu mir.
Und – sie wandte sich. Einmal noch, ganz mechanisch blickte sie zurück.
Aber so stark mußte mein Aufzucken, das Vorspringen meines gespannten
Gefühls in dem Blick gewesen sein, daß sie beobachtend stehen blieb. Sie
wippte noch einmal halb herum, sah mich durch das Dunkel an, lächelte und
winkte mit dem Kopf einladend hinüber gegen die verschattete Seite des
Platzes. Und endlich fühlte ich den entsetzlichen Bann der Starre in mir
weichen. Ich konnte mich wieder regen und nickte ihr bejahend zu.
Der unsichtbare Pakt war geschlossen. Nun ging sie voraus über den
dämmerigen Platz, von Zeit zu Zeit sich umwendend, ob ich ihr nachkäme.
Und ich folgte: das Blei war von meinen Knien gefallen, ich konnte wieder
die Füße regen. Magnetisch stieß es mich nach, ich ging nicht bewußt,
sondern strömte gleichsam, von geheimnisvoller Macht gezogen, hinter ihr
her. Im Dunkel der Gasse zwischen den Buden verlangsamte sie den Schritt.
Nun stand ich neben ihr.
Sie sah mich einige Sekunden an, prüfend und mißtrauisch: etwas machte
sie unsicher. Offenbar war ihr mein seltsam scheues Dastehen, der Kontrast
des Ortes und meiner Eleganz, irgendwie verdächtig. Sie blickte sich
mehrmals um, zögerte. Dann sagte sie in die Verlängerung der Gasse deutend,
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik