Seite - 103 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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eines herbstlichen Tages das Absurde meines Tuns selbst nicht ganz erklären:
ich wußte, wußte sofort mit jeder Fiber meines Wesens, daß ich unnötig in
eine Gefahr ging, aber wie ein seiner Wahnsinn rieselte mir das Vorgefühl
durch die Nerven. Ich wußte ein Widerliches, vielleicht Tödliches voraus, ich
zitterte vor Ekel, hier irgendwie in ein Verbrechen, in ein gemeines,
schmutziges Erleben gedrängt zu sein, aber gerade für die nie gekannte,
nie geahnte Lebenstrunkenheit, die mich betäubend überströmte, war selbst
der Tod noch eine finstere Neugier. Etwas – war es Scham, die Furcht zu
zeigen, oder eine Schwäche? – stieß mich vorwärts. Es reizte mich, in die
letzte Kloake des Lebens hinabzusteigen, in einem einzigen Tage meine ganze
Vergangenheit zu verspielen und zu verprassen, eine verwegene Wollust des
Geistes mengte sich der gemeinen dieses Abenteuers. Und obwohl ich mit
allen meinen Nerven die Gefahr witterte, sie mit meinen Sinnen, meinem
Verstand klarsichtig begriff, ging ich trotzdem weiter hinein in das Gehölz am
Arm dieser schmutzigen Praterdirne, die mich körperlich mehr abstieß als
lockte und von der ich wußte, daß sie mich nur für ihre Spießgesellen herzog.
Aber ich konnte nicht zurück. Die Schwerkraft des Verbrecherischen, die sich
nachmittags im Abenteuer auf dem Rennplatze an mich gehangen, riß mich
weiter und weiter hinab. Und ich spürte nur mehr die Betäubung, den
wirbeligen Taumel des Sturzes in neue Tiefen hinab und vielleicht in die
letzte: in den Tod.
Nach ein paar Schritten blieb sie stehen. Wieder flog ihr Blick unsicher
herum. Dann sah sie mich wartend an: »Na – und was schenkst du mir?«
Ach so. Das hatte ich vergessen. Aber die Frage ernüchterte mich nicht. Im
Gegenteil. Ich war ja so froh, schenken, geben, mich verschwenden zu dürfen.
Hastig griff ich in die Tasche, schüttete alles Silber und ein paar zerknüllte
Banknoten ihr in die aufgetane Hand. Und nun geschah etwas so
Wunderbares, daß mir heute noch das Blut warm wird, wenn ich daran denke:
entweder war diese arme Person überrascht von der Höhe der Summe – sie
war sonst nur kleine Münze gewohnt für ihren schmutzigen Dienst –, oder in
der Art meines Gebens, des freudigen, raschen, fast beglückten Gebens mußte
etwas ihr Ungewohntes, etwas Neues sein, denn sie trat zurück, und durch das
dicke, übelriechende Dunkel spürte ich, wie ihr Blick mit einem großen
Erstaunen mich suchte. Und ich empfand endlich das lang Entbehrte dieses
Abends: jemand fragte nach mir, jemand suchte mich, zum
erstenmal lebte ich für irgend jemanden dieser Welt. Und daß gerade diese
Ausgestoßenste, dieses Wesen, das ihren armen verbrauchten Körper durch
die Dunkelheit wie eine Ware trug und die, ohne den Käufer auch nur
anzusehen, sich an mich gedrängt, nun die Augen aufschlug zu den meinen,
daß sie nach dem Menschen in mir fragte, das steigerte nur meine
merkwürdige Trunkenheit, die hellsichtig war und taumelnd zugleich,
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik