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Amok - Novellen einer Leidenschaft
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wissend und aufgelöst in eine magische Dumpfheit. Und schon drängte dieses fremde Wesen sich näher an mich, aber nicht in geschäftsmäßiger Erfüllung bezahlter Pflicht, sondern ich meinte, irgend etwas unbewußt Dankbares, einen weibhaften Willen zur Annäherung darin zu spüren. Ich faßte leise ihren Arm an, den magern rachitischen Kinderarm, empfand ihren kleinen verkrüppelten Körper und sah plötzlich über all das hinaus ihr ganzes Leben: die geliehene schmierige Bettstelle in einem Vorstadthof, wo sie von morgens bis mittags schlief zwischen einem Gewürm fremder Kinder, ich sah ihren Zuhälter, der sie würgte, die Trunkenen, die sich im Dunkel rülpsend über sie warfen, die gewisse Abteilung im Krankenhaus, in die man sie brachte, den Hörsaal, wo man ihren abgeschundenen Leib nackt und krank jungen frechen Studenten als Lehrobjekt hinhielt, und dann das Ende irgendwo in einer Heimatsgemeinde, in die man sie per Schub abgeladen und wo man sie verrecken ließ wie ein Tier. Unendliches Mitleid mit ihr, mit allen überkam mich, irgend etwas Warmes, das Zärtlichkeit war und doch keine Sinnlichkeit. Immer wieder strich ich ihr über den kleinen magern Arm. Und dann beugte ich mich nieder und küßte die Erstaunte. In diesem Augenblick raschelte es hinter mir. Ein Ast knackte. Ich sprang zurück. Und schon lachte eine breite, ordinäre Männerstimme. »Da haben mirs. Ich hab mirs ja gleich gedacht.« Noch ehe ich sie sah, wußte ich, wer sie waren. Nicht eine Sekunde hatte ich inmitten all meiner dumpfen Betäubung daran vergessen, daß ich umlauert war, ja meine geheimnisvolle wache Neugier hatte sie erwartet. Eine Gestalt schob sich jetzt vor aus dem Gebüsch und hinter ihr eine zweite: verwilderte Burschen, frech aufgepflanzt. Wieder kam das ordinäre Lachen. »So eine Gemeinheit, da Schweinereien zu treiben. Natürlich ein feiner Herr! Den werden wir aber jetzt Hopp nehmen.« Ich stand reglos. Das Blut tickte mir an die Schläfen. Ich empfand keine Angst. Ich wartete nur, was geschehen sollte. Jetzt war ich endlich in der Tiefe, im letzten Abgrund des Gemeinen. Jetzt mußte der Aufschlag kommen, das Zerschellen, das Ende, dem ich halbwissend entgegengetrieben. Das Mädel war von mir weggesprungen, aber doch nicht zu ihnen hinüber. Sie stand irgendwie in der Mitte: anscheinend war ihr der vorbereitete Überfall doch nicht ganz angenehm. Die Burschen wiederum waren ärgerlich, daß ich mich nicht rührte. Sie sahen einander an, offenbar erwarteten sie von mir einen Widerspruch, eine Bitte, irgendeine Angst. »Aha, er sagt nix’, rief schließlich drohend der eine. Und der andere trat auf mich zu und sagte befehlend: »Sie müssen mit aufs Kommissariat.« Ich antwortete noch immer nichts. Da legte mir der eine den Arm auf die Schulter und stieß mich leicht vor. »Vorwärts«, sagte er. 104
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Amok Novellen einer Leidenschaft
Titel
Amok
Untertitel
Novellen einer Leidenschaft
Autor
Stefan Zweig
Datum
1922
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
158
Kategorien
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