Seite - 104 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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wissend und aufgelöst in eine magische Dumpfheit. Und schon drängte dieses
fremde Wesen sich näher an mich, aber nicht in geschäftsmäßiger Erfüllung
bezahlter Pflicht, sondern ich meinte, irgend etwas unbewußt Dankbares,
einen weibhaften Willen zur Annäherung darin zu spüren. Ich faßte leise ihren
Arm an, den magern rachitischen Kinderarm, empfand ihren kleinen
verkrüppelten Körper und sah plötzlich über all das hinaus ihr ganzes Leben:
die geliehene schmierige Bettstelle in einem Vorstadthof, wo sie von morgens
bis mittags schlief zwischen einem Gewürm fremder Kinder, ich sah ihren
Zuhälter, der sie würgte, die Trunkenen, die sich im Dunkel rülpsend über sie
warfen, die gewisse Abteilung im Krankenhaus, in die man sie brachte, den
Hörsaal, wo man ihren abgeschundenen Leib nackt und krank jungen frechen
Studenten als Lehrobjekt hinhielt, und dann das Ende irgendwo in einer
Heimatsgemeinde, in die man sie per Schub abgeladen und wo man sie
verrecken ließ wie ein Tier. Unendliches Mitleid mit ihr, mit allen überkam
mich, irgend etwas Warmes, das Zärtlichkeit war und doch keine Sinnlichkeit.
Immer wieder strich ich ihr über den kleinen magern Arm. Und dann beugte
ich mich nieder und küßte die Erstaunte.
In diesem Augenblick raschelte es hinter mir. Ein Ast knackte. Ich sprang
zurück. Und schon lachte eine breite, ordinäre Männerstimme. »Da haben
mirs. Ich hab mirs ja gleich gedacht.«
Noch ehe ich sie sah, wußte ich, wer sie waren. Nicht eine Sekunde hatte
ich inmitten all meiner dumpfen Betäubung daran vergessen, daß ich umlauert
war, ja meine geheimnisvolle wache Neugier hatte sie erwartet. Eine Gestalt
schob sich jetzt vor aus dem Gebüsch und hinter ihr eine zweite: verwilderte
Burschen, frech aufgepflanzt. Wieder kam das ordinäre Lachen. »So eine
Gemeinheit, da Schweinereien zu treiben. Natürlich ein feiner Herr! Den
werden wir aber jetzt Hopp nehmen.« Ich stand reglos. Das Blut tickte mir an
die Schläfen. Ich empfand keine Angst. Ich wartete nur, was geschehen sollte.
Jetzt war ich endlich in der Tiefe, im letzten Abgrund des Gemeinen. Jetzt
mußte der Aufschlag kommen, das Zerschellen, das Ende, dem ich
halbwissend entgegengetrieben.
Das Mädel war von mir weggesprungen, aber doch nicht zu ihnen hinüber.
Sie stand irgendwie in der Mitte: anscheinend war ihr der vorbereitete
Überfall doch nicht ganz angenehm. Die Burschen wiederum waren ärgerlich,
daß ich mich nicht rührte. Sie sahen einander an, offenbar erwarteten sie von
mir einen Widerspruch, eine Bitte, irgendeine Angst. »Aha, er sagt nix’, rief
schließlich drohend der eine. Und der andere trat auf mich zu und sagte
befehlend: »Sie müssen mit aufs Kommissariat.«
Ich antwortete noch immer nichts. Da legte mir der eine den Arm auf die
Schulter und stieß mich leicht vor. »Vorwärts«, sagte er.
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik