Seite - 109 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
Bild der Seite - 109 -
Text der Seite - 109 -
Ballons? »Geben Sie mir alle«, sagte ich und gab ihm einen
Zehnkronenschein. Er torkelte auf, sah mich wie geblendet an, dann gab er
mir zitternd die Schnur, die das ganze Bündel hielt. Straff fühlte ich es an dem
Finger ziehn: sie wollten weg, wollten frei sein, wollten hinauf in den
Himmel hinein. So geht, fliegt, wohin ihr begehrt, seid frei! Ich ließ die
Schnüre los, und wie viele bunte Monde stiegen sie plötzlich auf. Von allen
Seiten liefen die Leute her und lachten, aus dem Dunkel kamen die
Verliebten, die Kutscher knallten mit den Peitschen und zeigten sich
gegenseitig rufend mit den Fingern, wie jetzt die freien Kugeln über die
Bäume hin zu den Häusern und Dächern trieben. Alles sah sich fröhlich an
und hatte seinen Spaß mit meiner seligen Torheit.
Warum hatte ich das nie und nie gewußt, wie leicht es ist und wie gut,
Freude zu geben! Mit einem Male brannten die Banknoten wieder in der
Brieftasche, sie zuckten mir in den Fingern so wie vordem die Schnüre der
Ballons: auch sie wollten wegfliegen von mir ins Unbekannte hinein. Und ich
nahm sie, die gestohlenen des Lajos und die eigenen – denn nichts empfand
ich mehr davon als Unterschied oder Schuld – zwischen die Finger, bereit, sie
jedem hinzustreuen, der eine wollte. Ich ging hinüber zu einem Straßenkehrer,
der verdrossen die verlassene Praterstraße fegte. Er meinte, ich wolle ihn nach
irgendeiner Gasse fragen und sah mürrisch auf: ich lachte ihn an und hielt ihm
einen Zwanzigkronenschein hin. Er starrte, ohne zu begreifen, dann nahm er
ihn endlich und wartete, was ich von ihm fordern würde. Ich aber lachte ihm
nur zu, sagte: »Kauf dir was Gutes dafür«, und ging weiter. Immer sah ich
nach allen Seiten, ob nicht jemand etwas von mir begehrte, und da niemand
kam, bot ich an: einer Hure, die mich ansprach, schenkte ich einen Schein,
zwei einem Laternenanzünder, einen warf ich in die offene Luke einer
Backstube im Untergeschoß, und ging so, ein Kielwasser von Staunen, Dank,
Freude hinter mir, weiter und weiter. Schließlich warf ich sie einzeln und
zerknüllt ins Leere auf die Straße, auf die Stufen einer Kirche und freute mich
an dem Gedanken, wie das Hutzelweibchen bei der Morgenandacht die
hundert Kronen finden und Gott segnen, ein armer Student, ein Mädel, ein
Arbeiter das Geld staunend und doch beglückt auf ihrem Weg entdecken
würden, sowie ich selbst staunend und beglückt in dieser Nacht mich selber
entdeckt.
Ich könnte nicht mehr sagen, wo und wie ich sie alle verstreute, die
Banknoten und schließlich auch mein Silbergeld. Es war irgendein Taumel in
mir, ein sich Ergießen wie in eine Frau, und als die letzten Blätter
weggeflattert waren, fühlte ich Leichtigkeit, als ob ich hätte fliegen können,
eine Freiheit, die ich nie gekannt. Die Straße, der Himmel, die Häuser, alles
flutete mir ineinander in einem ganz neuen Gefühl des Besitzes, des
Zusammengehörens: nie und auch in den heißesten Sekunden meiner Existenz
109
zurück zum
Buch Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik