Seite - 123 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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dachte als an Dich: nur sehen wollte ich Dich, einmal noch sehen, mich
anklammern an Dich. Die ganze Nacht, die ganze lange, entsetzliche Nacht,
habe ich dann, Geliebter, auf Dich gewartet. Kaum daß die Mutter sich in ihr
Bett gelegt hatte und eingeschlafen war, schlich ich in das Vorzimmer hinaus,
um zu horchen, wann Du nach Hause kämest. Die ganze Nacht habe ich
gewartet, und es war eine eisige Januarnacht. Ich war müde, meine Glieder
schmerzten mich, und es war kein Sessel mehr, mich hinzusetzen: so legte ich
mich flach auf den kalten Boden, über den der Zug von der Tür hinstrich. Nur
in meinem dünnen Kleide lag ich auf dem schmerzenden kalten Boden, denn
ich nahm keine Decke; ich wollte es nicht warm haben, aus Furcht,
einzuschlafen und Deinen Schritt zu überhören. Es tat weh, meine Füße
preßte ich im Krampfe zusammen, meine Arme zitterten: ich mußte immer
wieder aufstehen, so kalt war es im entsetzlichen Dunkel. Aber ich wartete,
wartete, wartete auf Dich wie auf mein Schicksal.
Endlich – es muß schon zwei oder drei Uhr morgens gewesen sein – hörte
ich unten das Haustor aufsperren und dann Schritte die Treppe hinauf. Wie
abgesprungen war die Kälte von mir, heiß überflogs mich, leise machte ich
die Tür auf, um Dir entgegen zu stürzen, Dir zu Füßen zu fallen … Ach, ich
weiß ja nicht, was ich törichtes Kind damals getan hätte. Die Schritte kamen
näher, Kerzenlicht flackte herauf. Zitternd hielt ich die Klinke. Warst Du es,
der da kam?
Ja, Du warst es, Geliebter – aber Du warst nicht allein. Ich hörte ein leises,
kitzliches Lachen, irgendein streifendes seidenes Kleid und leise Deine
Stimme – Du kamst mit einer Frau nach Hause …
Wie ich diese Nacht überleben konnte, weiß ich nicht. Am nächsten
Morgen, um acht Uhr, schleppten sie mich nach Innsbruck; ich hatte keine
Kraft mehr, mich zu wehren.
*
Mein Kind ist gestern nacht gestorben – nun werde ich wieder allein sein,
wenn ich wirklich weiterleben muß. Morgen werden sie kommen, fremde,
schwarze ungeschlachte Männer, und einen Sarg bringen, werden es
hineinlegen, mein armes, mein einziges Kind. Vielleicht kommen auch
Freunde und bringen Kränze, aber was sind Blumen auf einem Sarg? Sie
werden mich trösten und mir irgendwelche Worte sagen, Worte, Worte; aber
was können sie mir helfen? Ich weiß, ich muß dann doch wieder allein sein.
Und es gibt nichts Entsetzlicheres, als Alleinsein unter den Menschen.
Damals habe ich es erfahren, damals in jenen unendlichen zwei Jahren in
Innsbruck, jenen Jahren von meinem sechzehnten bis zu meinem achtzehnten,
wo ich wie eine Gefangene, eine Verstoßene zwischen meiner Familie lebte.
Der Stiefvater, ein sehr ruhiger, wortkarger Mann, war gut zu mir, meine
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik