Seite - 124 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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Mutter schien, wie um ein unbewußtes Unrecht zu sühnen, allen meinen
Wünschen bereit, junge Menschen bemühten sich um mich, aber ich stieß sie
alle in einem leidenschaftlichen Trotz zurück. Ich wollte nicht glücklich, nicht
zufrieden leben abseits von Dir, ich grub mich selbst in eine finstere Welt von
Selbstqual und Einsamkeit. Die neuen, bunten Kleider, die sie mir kauften,
zog ich nicht an, ich weigerte mich, in Konzerte, in Theater zu gehen oder
Ausflüge in heiterer Gesellschaft mitzumachen. Kaum daß ich je die Gasse
betrat: würdest Du es glauben, Geliebter, daß ich von dieser kleinen Stadt, in
der ich zwei Jahre gelebt, keine zehn Straßen kenne? Ich trauerte und ich
wollte trauern, ich berauschte mich an jeder Entbehrung, die ich mir zu der
Deines Anblicks noch auferlegte. Und dann: ich wollte mich nicht ablenken
lassen von meiner Leidenschaft, nur in Dir zu leben. Ich saß allein zu Hause,
stundenlang, tagelang, und tat nichts, als an Dich zu denken, immer wieder,
immer wieder die hundert kleinen Erinnerungen an Dich, jede Begegnung,
jedes Warten, mir zu erneuern, mir diese kleinen Episoden vorzuspielen wie
im Theater. Und darum, weil ich jede der Sekunden von einst mir
unzähligemale wiederholte, ist auch meine ganze Kindheit mir in so
brennender Erinnerung geblieben, daß ich jede Minute jener vergangenen
Jahre so heiß und springend fühle, als wäre sie gestern durch mein Blut
gefahren.
Nur in Dir habe ich damals gelebt. Ich kaufte mir alle Deine Bücher; wenn
Dein Name in der Zeitung stand, war es ein festlicher Tag. Willst Du es
glauben, daß ich jede Zeile aus Deinen Büchern auswendig kann, so oft habe
ich sie gelesen? Würde mich einer nachts aus dem Schlaf aufwecken und eine
losgerissene Zeile aus ihnen mir vorsprechen, ich könnte sie heute noch, heute
noch nach dreizehn Jahren, weitersprechen wie im Traum: so war jedes Wort
von Dir mir Evangelium und Gebet. Die ganze Welt, sie existierte nur in
Beziehung auf Dich: ich las in den Wiener Zeitungen die Konzerte, die
Premieren nach nur mit dem Gedanken, welche Dich davon interessieren
möchte, und wenn es Abend wurde, begleitete ich Dich von ferne: jetzt tritt er
in den Saal, jetzt setzt er sich nieder. Tausendmal träumte ich das, weil ich
Dich ein einziges Mal in einem Konzert gesehen.
Aber wozu all dies erzählen, diesen rasenden, gegen sich selbst wütenden,
diesen so tragischen hoffnungslosen Fanatismus eines verlassenen Kindes,
wozu es einem erzählen, der es nie geahnt, der es nie gewußt? Doch war ich
damals wirklich noch ein Kind? Ich wurde siebzehn, wurde achtzehn Jahre –
die jungen Leute begannen sich auf der Straße nach mir umzublicken, doch
sie erbitterten mich nur. Denn Liebe oder auch nur ein Spiel mit Liebe im
Gedanken an jemanden andern als an Dich, das war mir so unerfindlich, so
unausdenklich fremd, ja die Versuchung schon wäre mir als ein Verbrechen
erschienen. Meine Leidenschaft zu Dir blieb dieselbe, nur daß sie anders ward
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Buch Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik