Seite - 127 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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immer noch unerkannt von Dir. Wie soll ich sie Dir schildern, diese
Enttäuschung! Denn sieh, in diesen zwei Jahren in Innsbruck, wo ich jede
Stunde an Dich dachte und nichts tat, als mir unsere erste Wiederbegegnung
in Wien auszudenken, da hatte ich die wildesten Möglichkeiten neben den
seligsten, je nach dem Zustand meiner Laune, ausgeträumt. Alles war, wenn
ich so sagen darf, durchgeträumt; ich hatte mir in finstern Momenten
vorgestellt, Du würdest mich zurückstoßen, würdest mich verachten, weil ich
zu gering, zu häßlich, zu aufdringlich sei. Alle Formen Deiner Mißgunst,
Deiner Kälte, Deiner Gleichgültigkeit, sie alle hatte ich durchgewandelt in
leidenschaftlichen Visionen – aber dies, dies eine hatte ich in keiner finstern
Regung des Gemüts, nicht im äußersten Bewußtsein meiner Minderwertigkeit
in Betracht zu ziehen gewagt, dies Entsetzlichste: daß Du überhaupt von
meiner Existenz nichts bemerkt hattest. Heute verstehe ich es ja – ach,
Du hast michs verstehen gelehrt! – daß das Gesicht eines Mädchens, einer
Frau etwas ungemein Wandelhaftes sein muß für einen Mann, weil es meist
nur Spiegel ist, bald einer Leidenschaft, bald einer Kindlichkeit, bald eines
Müdeseins, und so leicht verfließt wie ein Bildnis im Spiegel, daß also ein
Mann leichter das Antlitz einer Frau verlieren kann, weil das Alter dann
durchwandelt mit Schatten und Licht, weil die Kleidung es von einemmal
zum andern anders rahmt. Die Resignierten, sie sind ja erst die wahren
Wissenden. Aber ich, das Mädchen von damals, ich konnte Deine
Vergeßlichkeit noch nicht fassen, denn irgendwie war aus meiner maßlosen,
unaufhörlichen Beschäftigung mit Dir der Wahn in mich gefahren, auch Du
müßtest meiner oft gedenken und auf mich warten; wie hätte ich auch nur
atmen können mit der Gewißheit, ich sei Dir nichts, nie rühre ein Erinnern an
mich Dich leise an! Und dies Erwachen vor Deinem Blick, der mir zeigte, daß
nichts in Dir mich mehr kannte, kein Spinnfaden Erinnerung von Deinem
Leben hinreiche zu meinem, das war ein erster Sturz hinab in die
Wirklichkeit, eine erste Ahnung meines Schicksals.
Du erkanntest mich nicht damals. Und als zwei Tage später Dein Blick mit
einer gewissen Vertrautheit bei erneuter Begegnung mich umfing, da
erkanntest Du mich wiederum nicht als die, die Dich geliebt und die Du
erweckt, sondern bloß als das hübsche achtzehnjährige Mädchen, das Dir vor
zwei Tagen an der gleichen Stelle entgegengetreten. Du sahst mich freundlich
überrascht an, ein leichtes Lächeln umspielte Deinen Mund. Wieder gingst Du
an mir vorbei und wieder den Schritt sofort verlangsamend: ich zitterte, ich
jauchzte, ich betete, Du würdest mich ansprechen. Ich fühlte, daß ich zum
erstenmal für Dich lebendig war: auch ich verlangsamte den Schritt, ich wich
Dir nicht aus. Und plötzlich spürte ich Dich hinter mir, ohne mich
umzuwenden, ich wußte, nun würde ich zum erstenmal Deine geliebte
Stimme an mich gerichtet hören. Wie eine Lähmung war die Erwartung in
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Buch Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik