Seite - 129 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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irgendwie erstaunt mustertest. Dein Gefühl, Dein in allem Menschlichen so
magisch sicheres Gefühl witterte hier sogleich ein Ungewöhnliches, ein
Geheimnis in diesem hübschen zutunlichen Mädchen. Der Neugierige in Dir
war wach, und ich merkte aus der umkreisenden, spürenden Art der Fragen,
wie Du nach dem Geheimnis tasten wolltest. Aber ich wich Dir aus: ich
wollte lieber töricht erscheinen als Dir mein Geheimnis verraten.
Wir gingen zu Dir hinauf. Verzeih, Geliebter, wenn ich Dir sage, daß Du es
nicht verstehen kannst, was dieser Gang, diese Treppe für mich waren,
welcher Taumel, welche Verwirrung, welch ein rasendes, quälendes, fast
tödliches Glück. Jetzt noch kann ich kaum ohne Tränen daran denken, und ich
habe keine mehr. Aber fühl es nur aus, daß jeder Gegenstand dort gleichsam
durchdrungen war von meiner Leidenschaft, jeder ein Symbol meiner
Kindheit, meiner Sehnsucht: das Tor, vor dem ich tausende Male auf Dich
gewartet, die Treppe, von der ich immer Deinen Schritt erhorcht und wo ich
Dich zum erstenmal gesehen, das Guckloch, aus dem ich mir die Seele
gespäht, der Türvorleger vor Deiner Tür, auf dem ich einmal gekniet, das
Knacken des Schlüssels, bei dem ich immer aufgesprungen von meiner Lauer.
Die ganze Kindheit, meine ganze Leidenschaft, da nistete sie ja in diesen paar
Metern Raum, hier war mein ganzes Leben, und jetzt fiel es nieder auf mich
wie ein Sturm, da alles, alles sich erfüllte und ich mit Dir ging, ich mit Dir, in
Deinem, in unserem Hause. Bedenke – es klingt ja banal, aber ich weiß es
nicht anders zu sagen –, daß bis zu Deiner Tür alles Wirklichkeit, dumpfe
tägliche Welt ein Leben lang gewesen war, und dort das Zauberreich des
Kindes begann, Aladins Reich, bedenke, daß ich tausendmal mit brennenden
Augen auf diese Tür gestarrt, die ich jetzt taumelnd durchschritt, und Du wirst
ahnen – aber nur ahnen, niemals ganz wissen, mein Geliebter! – was diese
stürzende Minute von meinem Leben wegtrug.
Ich blieb damals die ganze Nacht bei Dir. Du hast es nicht geahnt, daß
vordem noch nie ein Mann mich berührt, noch keiner meinen Körper gefühlt
oder gesehen. Aber wie konntest Du es auch ahnen, Geliebter, denn ich bot
Dir ja keinen Widerstand, ich unterdrückte jedes Zögern der Scham, nur
damit Du nicht das Geheimnis meiner Liebe zu Dir erraten könntest, das Dich
gewiß erschreckt hätte –, denn Du liebst ja nur das Leichte, das Spielende, das
Gewichtlose, Du hast Angst, in ein Schicksal einzugreifen. Verschwenden
willst Du Dich, Du, an alle, an die Welt, und willst kein Opfer. Wenn ich Dir
jetzt sage, Geliebter, daß ich mich jungfräulich Dir gab, so flehe ich Dich an:
mißversteh mich nicht! Ich klage Dich ja nicht an, Du hast mich nicht gelockt,
nicht belogen, nicht verführt – ich, ich selbst drängte zu Dir, warf mich an
Deine Brust, warf mich in mein Schicksal. Nie, nie werde ich Dich anklagen,
nein, nur immer Dir danken, denn wie reich, wie funkelnd von Lust, wie
schwebend von Seligkeit war für mich diese Nacht. Wenn ich die Augen
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Buch Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik