Seite - 133 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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der Wehrlosen das Bettuch aufstreiften und sie mit falscher
Wissenschaftlichkeit antasteten, an der Habsucht der Wärterinnen – oh, dort
wird die Scham eines Menschen gekreuzigt mit Blicken und gegeißelt mit
Worten. Die Tafel mit Deinem Namen, das allein bist dort noch Du, denn was
im Bette liegt, ist bloß ein zuckendes Stück Fleisch, betastet von Neugierigen,
ein Objekt der Schau und des Studierens – ah, sie wissen es nicht, die Frauen,
die ihren Mann, dem zärtlich wartenden, in seinem Hause Kinder schenken,
was es heißt, allein, wehrlos, gleichsam am Versuchstisch, ein Kind zu
gebären! Und lese ich noch heute in einem Buche das Wort Hölle, so denke
ich plötzlich wider meinen bewußten Willen an jenen vollgepfropften,
dünstenden, von Seufzer, Gelächter und blutigem Schrei erfüllten Saal, in
dem ich gelitten habe, an dieses Schlachthaus der Scham.
Verzeih, verzeih mirs, daß ich davon spreche. Aber nur dieses eine Mal
rede ich davon, nie mehr, nie mehr wieder. Elf Jahre habe ich geschwiegen
davon, und werde bald stumm sein in alle Ewigkeit: einmal mußte ichs
ausschreien, einmal ausschreien, wie teuer ich es erkaufte, dies Kind, das
meine Seligkeit war und das nun dort ohne Atem liegt. Ich hatte sie schon
vergessen, diese Stunden, längst vergessen im Lächeln, in der Stimme des
Kindes, in meiner Seligkeit; aber jetzt, da es tot ist, wird die Qual wieder
lebendig, und ich mußte sie mir von der Seele schreien, dieses eine, dieses
eine Mal. Aber nicht Dich klage ich an, nur Gott, nur Gott, der sie sinnlos
machte, diese Qual. Nicht Dich klage ich an, ich schwöre es Dir, und nie habe
ich mich im Zorn erhoben gegen Dich. Selbst in der Stunde, da mein Leib
sich krümmte in den Wehen, da mein Körper vor Scham brannte unter den
tastenden Blicken der Studenten, selbst in der Sekunde, da der Schmerz mir
die Seele zerriß, habe ich Dich nicht angeklagt vor Gott; nie habe ich jene
Nächte bereut, nie meine Liebe zu Dir gescholten, immer habe ich Dich
geliebt, immer die Stunde gesegnet, da Du mir begegnet bist. Und müßte ich
noch einmal durch die Hölle jener Stunden und wüßte vordem, was mich
erwartet, ich täte es noch einmal, mein Geliebter, noch einmal und
tausendmal!
*
Unser Kind ist gestern gestorben – Du hast es nie gekannt. Niemals, auch
in der flüchtigen Begegnung des Zufalles hat dies blühende, kleine Wesen,
Dein Wesen, im Vorübergehen Deinen Blick gestreift. Ich hielt mich lange
verborgen vor Dir, sobald ich dies Kind hatte, meine Sehnsucht nach Dir war
weniger schmerzhaft geworden, ja ich glaube, ich liebte Dich weniger
leidenschaftlich, zumindest litt ich nicht so an meiner Liebe, seit es mir
geschenkt war. Ich wollte mich nicht zerteilen zwischen Dir und ihm; so gab
ich mich nicht an Dich, den Glücklichen, der an mir vorbeilebte, sondern an
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Buch Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik