Seite - 138 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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Unbekannten. »Haben Sie auch für mich einmal eine Stunde«, fragtest Du
vertraulich – ich fühlte an der Sicherheit Deiner Art, Du nahmst mich für eine
dieser Frauen, für die Käufliche eines Abends. »Ja«, sagte ich, dasselbe
zitternde und doch selbstverständliche einwilligende Ja, das Dir das Mädchen
vor mehr als einem Jahrzehnt auf der dämmernden Straße gesagt. »Und wann
könnten wir uns sehen?« fragtest Du. »Wann immer Sie wollen«, antwortete
ich – vor Dir hatte ich keine Scham. Du sahst mich ein wenig verwundert an,
mit derselben mißtrauisch-neugierigen Verwunderung wie damals, als Dich
gleichfalls die Raschheit meines Einverständnisses erstaunt hatte. »Könnten
Sie jetzt?« fragtest Du, ein wenig zögernd. »Ja,« sagte ich, »gehen wir.«
Ich wollte zur Garderobe, meinen Mantel holen.
Da fiel mir ein, daß mein Freund den Garderobenzettel hatte für unsere
gemeinsam abgegebenen Mäntel. Zurückzugehen und ihn verlangen, wäre
ohne umständliche Begründung nicht möglich gewesen, anderseits die Stunde
mit Dir preisgeben, die seit Jahren ersehnte, dies wollte ich nicht. So habe ich
keine Sekunde gezögert: ich nahm nur den Schal über das Abendkleid und
ging hinaus in die nebelfeuchte Nacht, ohne mich um den Mantel zu
kümmern, ohne mich um den guten, zärtlichen Menschen zu kümmern, von
dem ich seit Jahren lebte und den ich vor seinen Freunden zum lächerlichsten
Narren erniedrigte, zu einem, dem seine Geliebte nach Jahren wegläuft auf
den ersten Pfiff eines fremden Mannes. Oh, ich war mir ganz der Niedrigkeit,
der Undankbarkeit, der Schändlichkeit, die ich gegen einen ehrlichen Freund
beging, im Tiefsten bewußt, ich fühlte, daß ich lächerlich handelte und mit
meinem Wahn einen gütigen Menschen für immer tödlich kränkte, fühlte, daß
ich mein Leben mitten entzweiriß – aber was war mir Freundschaft, was
meine Existenz gegen die Ungeduld, wieder einmal Deine Lippen zu fühlen,
Dein Wort weich gegen mich gesprochen zu hören. So habe ich Dich geliebt,
nun kann ich es Dir sagen, da alles vorbei ist und vergangen. Und ich glaube,
riefest Du mich von meinem Sterbebette, so käme mir plötzlich die Kraft,
aufzustehen und mit Dir zu gehen.
Ein Wagen stand vor dem Eingang, wir fuhren zu Dir. Ich hörte wieder
Deine Stimme, ich fühlte Deine zärtliche Nähe und war genau so betäubt, so
kindischselig verwirrt wie damals. Wie stieg ich, nach mehr als zehn Jahren,
zum erstenmal wieder die Treppe empor – nein, nein, ich kann Dirs nicht
schildern, wie ich alles immer doppelt fühlte in jenen Sekunden, vergangene
Zeit und Gegenwart, und in allem und allem immer nur Dich. In Deinem
Zimmer war weniges anders, ein paar Bilder mehr, und mehr Bücher, da und
dort fremde Möbel, aber alles doch grüßte mich vertraut. Und am Schreibtisch
stand die Vase mit den Rosen darin – mit meinen Rosen, die ich Dir tags
vorher zu Deinem Geburtstag geschickt als Erinnerung an eine, an die Du
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Buch Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik