Seite - 140 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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weggereist.« Ich sah Dich an, mitten in den Stern Deines Auges. »Jetzt, jetzt
wird er mich erkennen!« zitterte, drängte alles in mir. Aber Du lächeltest mir
entgegen und sagtest tröstend: »Man kommt ja wieder zurück.« »Ja,«
antwortete ich, »man kommt zurück, aber dann hat man vergessen.«
Es muß etwas Absonderliches, etwas Leidenschaftliches in der Art
gewesen sein, wie ich Dir das sagte. Denn auch Du standest auf und sahst
mich an, verwundert und sehr liebevoll. Du nahmst mich bei den Schultern:
»Was gut ist, vergißt sich nicht, Dich werde ich nicht vergessen«, sagtest Du,
und dabei senkte sich Dein Blick ganz in mich hinein, als wollte er dies Bild
sich festprägen. Und wie ich diesen Blick in mich eindringen fühlte, suchend,
spürend, mein ganzes Wesen an sich saugend, da glaubte ich endlich, endlich
den Bann der Blindheit gebrochen. Er wird mich erkennen, er wird mich
erkennen! Meine ganze Seele zitterte in dem Gedanken.
Aber Du erkanntest mich nicht. Nein, Du erkanntest mich nicht, nie war ich
Dir fremder jemals als in dieser Sekunde, denn sonst – sonst hättest Du nie
tun können, was Du wenige Minuten später tatest. Du hattest mich geküßt,
noch einmal leidenschaftlich geküßt. Ich mußte mein Haar, das sich verwirrt
hatte, wieder zurechtrichten, und während ich vor dem Spiegel stand, da sah
ich durch den Spiegel – und ich glaubte hinsinken zu müssen vor Scham und
Entsetzen – da sah ich, wie Du in diskreter Art ein paar größere Banknoten in
meinen Muff schobst. Wie habe ichs vermocht, nicht aufzuschreien, Dir nicht
ins Gesicht zu schlagen in dieser Sekunde – mich, die ich Dich liebte von
Kindheit an, die Mutter Deines Kindes, mich zahltest Du für diese Nacht!
Eine Dirne aus dem Tabarin war ich Dir, nicht mehr – bezahlt, bezahlt hattest
Du mich! Es war nicht genug, von Dir vergessen, ich mußte noch erniedrigt
sein.
Ich tastete rasch nach meinen Sachen. Ich wollte fort, rasch fort. Es tat mir
zu weh. Ich griff nach meinem Hut, er lag auf dem Schreibtisch, neben der
Vase mit den weißen Rosen, meinen Rosen. Da erfaßte es mich mächtig,
unwiderstehlich: noch einmal wollte ich es versuchen, Dich zu erinnern.
»Möchtest Du mir nicht von Deinen weißen Rosen eine geben?« »Gern«,
sagtest Du und nahmst sie sofort. »Aber sie sind Dir vielleicht von einer Frau
gegeben, von einer Frau, die Dich liebt?« sagte ich. »Vielleicht,« sagtest Du,
ich weiß es nicht. Sie sind mir gegeben und ich weiß nicht von wem; darum
liebe ich sie so.« Ich sah Dich an. »Vielleicht sind sie auch von einer, die Du
vergessen hast!«
Du blicktest erstaunt. Ich sah Dich fest an. »Erkenne mich, erkenne mich
endlich!« schrie mein Blick. Aber Dein Auge lächelte freundlich und
unwissend. Du küßtest mich noch einmal. Aber Du erkanntest mich nicht.
Ich ging rasch zur Tür, denn ich spürte, daß mir Tränen in die Augen
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik