Seite - 141 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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schossen, und das solltest Du nicht sehen. Im Vorzimmer – so hastig war ich
hinausgeeilt – stieß ich mit Johann, Deinem Diener, fast zusammen. Scheu
und eilfertig sprang er zur Seite, riß die Haustür auf, um mich hinauszulassen,
und da – in dieser einen, hörst Du? in dieser einen Sekunde, da ich ihn ansah,
mit tränenden Augen ansah, den gealterten Mann, da zuckte ihm plötzlich ein
Licht in den Blick. In dieser einen Sekunde, hörst Du? in dieser einen
Sekunde, hat der alte Mann mich erkannt, der mich seit meiner Kindheit nicht
gesehen. Ich hätte hinknieen können vor ihm für dieses Erkennen und ihm die
Hände küssen. So riß ich nur die Banknoten, mit denen Du mich gegeißelt,
rasch aus dem Muff und steckte sie ihm zu. Er zitterte, sah erschreckt zu mir
auf – in dieser Sekunde hat er vielleicht mehr geahnt von mir als Du in
Deinem ganzen Leben. Alle, alle Menschen haben mich verwöhnt, alle waren
zu mir gütig – nur Du, nur Du, Du hast mich vergessen, nur Du, nur Du hast
mich nie erkannt!
*
Mein Kind ist gestorben, unser Kind – jetzt habe ich niemanden mehr in
der Welt, ihn zu lieben, als Dich. Aber wer bist Du mir, Du, der Du mich
niemals, niemals erkennst, der an mir vorübergeht wie an einem Wasser, der
auf mich tritt wie auf einen Stein, der immer geht und weiter geht und mich
läßt in ewigem Warten? Einmal vermeinte ich Dich zu halten, Dich, den
Flüchtigen, in dem Kinde. Aber es war Dein Kind: über Nacht ist es grausam
von mir gegangen, eine Reise zu tun, es hat mich vergessen und kehrt nie
zurück. Ich bin wieder allein, mehr allein als jemals, nichts habe ich, nichts
von Dir – kein Kind mehr, kein Wort, keine Zeile, kein Erinnern, und wenn
jemand meinen Namen nennen würde vor Dir, Du hörtest an ihm fremd
vorbei. Warum soll ich nicht gerne sterben, da ich Dir tot bin, warum nicht
weitergehen, da Du von mir gegangen bist? Nein, Geliebter, ich klage nicht
wider Dich, ich will Dir nicht meinen Jammer hinwerfen in Dein heiteres
Haus. Fürchte nicht, daß ich Dich weiter bedränge – verzeih mir, ich mußte
mir einmal die Seele ausschreien in dieser Stunde, da das Kind dort tot und
verlassen liegt. Nur dies eine Mal mußte ich sprechen zu Dir – dann gehe ich
wieder stumm in mein Dunkel zurück, wie ich immer stumm neben Dir
gewesen. Aber Du wirst diesen Schrei nicht hören, solange ich lebe – nur
wenn ich tot bin, empfängst Du dies Vermächtnis von mir, von einer, die Dich
mehr geliebt als alle, und die Du nie erkannt, von einer, die immer auf Dich
gewartet und die Du nie gerufen. Vielleicht, vielleicht wirst Du mich dann
rufen, und ich werde Dir ungetreu sein zum erstenmal, ich werde Dich nicht
mehr hören aus meinem Tod: kein Bild lasse ich Dir und kein Zeichen, wie
Du mir nichts gelassen; nie wirst Du mich erkennen, niemals. Es war mein
Schicksal im Leben, es sei es auch in meinem Tod. Ich will Dich nicht rufen
in meine letzte Stunde, ich gehe fort, ohne daß Du meinen Namen weißt und
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Buch Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik