Seite - 146 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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trüben Dunst dieser Gasse etwas glimmerte von der Fäulnis der Welt. Aber
ich stand, blieb und lauschte ins Leere. Ich fühlte die Stadt nicht mehr und die
Gasse, nicht ihren Namen und nicht den meinen, empfand nur, daß ich hier
fremd war, wunderbar losgelöst in einem Unbekannten stand, daß keine
Absicht in mir war, keine Botschaft und keine Beziehung und ich doch all
dies dunkle Leben um mich so voll fühlte wie das Blut unter der eigenen
Haut. Dies Gefühl nur empfand ich, daß nichts für mich geschah und doch
alles mir zugehörte, dieses seligste Gefühl des durchAnteilslosigkeit tiefsten
und wahrsten Erlebens, das zu den lebendigen Quellen meines innern Wesens
gehört und mich im Unbekannten immer überfällt wie eine Lust. Da plötzlich,
horchend wie ich in der einsamen Gasse stand, gleichsam erwartungsvoll auf
irgend etwas, das geschehen müßte, etwas, das mich fortschöbe aus diesem
mondsüchtigen Gefühl des Lauschens ins Leere, hörte ich gedämpft durch
Ferne oder eine Wand, sehr trübe von irgendwo ein deutsches Lied singen,
jenen ganz einfältigen Reigen aus dem »Freischütz«: »Schöner, grüner
Jungfernkranz«. Eine Frauenstimme sang ihn, sehr schlecht, aber doch eine
deutsche Melodie war es, deutsch hier irgendwo in einem fremden Winkel der
Welt und darum brüderlich in einem so eigenen Sinne. Es war von
irgendwoher gesungen, aber doch, wie einen Gruß fühlte ichs, seit Wochen
das erste heimatliche Wort. Wer, fragte ich mich, spricht hier meine Sprache,
wen treibt eine Erinnerung von innen, in verwinkelt-verwilderter Gasse dies
arme Lied sich wieder aus dem Herzen zu heben? Ich tastete der Stimme
nach, ein Haus nach dem andern von all denen, die halbschlafend hier
standen, mit geschlossenen Fensterläden, hinter denen es aber verräterisch
blinzelte von Licht und manchmal von einer winkenden Hand. Außen klebten
grelle Überschriften, schreiende Plakate, und Ale, Whisky, Bier verhieß hier
eine versteckte Bar, aber alles war verschlossen, abweisend und doch wieder
einladend. Und dazwischen – ein paar Schritte tönten von fern – immer
wieder die Stimme, die jetzt den Refrain heller trillerte und immer näher war:
schon erkannte ich das Haus. Einen Augenblick zögerte ich, dann trat ich
gegen die innere Tür, die mit weißen Gardinen dicht verhangen war. Da aber,
als ich mich entschlossen hinbeugte, ward etwas im Schatten des Flurs jäh
lebendig, eine Gestalt, die offenbar eng an die Scheibe gepreßt dort gelauert
hatte, zuckte erschrocken auf, ein Gesicht, begossen vom Rot der
überhängenden Laterne und doch blaß im Entsetzen, ein Mann starrte mich
mit aufgerissenen Augen an, murmelte etwas wie eine Entschuldigung und
verschwand im Zwielicht der Gasse. Seltsam war dieser Gruß. Ich sah ihm
nach. Etwas schien sich noch im entschwindenden Schatten der Gasse von
ihm zu regen, aber undeutlich. Innen klang die Stimme noch immer, heller
sogar, wie mirs schien. Das lockte mich. Ich klinkte auf und trat rasch ein.
Wie von einem Messer zerschnitten fiel das letzte Wort des Gesanges herab.
Und erschrocken spürte ich eine Leere vor mir, eine Feindlichkeit des
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Buch Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik