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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG
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Frauen aus dem jüdischen Bürgertum war um 1900 in der B’nai-B’rith-Ge-
sellschaft diskutiert, ein Umdenken in puncto Versorgungsehe gefordert
worden 41 1895 war S. Freud dieser jüdischen Loge beigetreten, nahm an
ihren Veranstaltungen teil und hielt gelegentlich selbst Vorträge 42 Er war,
ganz in diesem Sinne, den Ambitionen seiner Tochter, wie wir sehen wer-
den, nicht abgeneigt, wollte aber anscheinend Zeit und Raum für deren
ungestörte Entwicklung schaffen. Zunächst ordnete er der frischen Lyzeal-
abgängerin einen mehrmonatigen Kuraufenthalt in der Meraner Pension
von Marie Rischawy an, nachdem aus der geplanten achtmonatigen Italien-
reise mit Minna Bernays nichts geworden war, weil Sophies Hochzeit be-
vorstand und Tante Minna im Wiener Haushalt benötigt wurde, damit Mar-
tha mit Sophie die Hamburger Wohnung vorbereiten konnte 43 Es
bestanden offenbar weiterhin Sorgen, was Annas physische und psychi-
sche Befindlichkeit betraf. Ihre Biografin Young-Bruehl zieht eine ›mäßige
Essstörung‹ in Erwägung, spricht von Psychasthenie44 – denn in seinem
Aufsatz »Ein Kind wird geschlagen«, auf den noch einzugehen sein wird,
wird Freud bei dem fünften der sechs besprochenen Fälle wohl seine Toch-
ter im Sinn gehabt haben:45 ein fünfter [Fall], der die Analyse bloß wegen
Unschlüssigkeiten im Leben aufsuchte, wäre von grober klinischer Diagnostik
überhaupt nicht klassifiziert oder als ›Psychasthenie‹ abgetan worden.46 Aus
dem Briefwechsel zwischen Vater und Tochter aus dieser Zeit geht hervor,
dass weiterhin Annas zu geringes Körpergewicht im Zentrum der Aufmerk-
samkeit steht, dass sie unter starken Rückenschmerzen leidet und dass sie
sich häufig müde fühlt.47 Nach längerer Zeit in Meran beteuert sie, schon
viel vernünftiger geworden zu sein, der Vater würde sich wundern wie viel,
aber auf die Entfernung könne er es nicht merken. Und so vernünftig werden,
wie er es meine, das sei viel zu schwer, und sie wisse auch nicht, ob sie das
erlerne.48 Annas ›Unvernunft‹ wird auch noch in späteren Zeiten von ihr
41 Malleier, Jüdische Frauen in Wien, S. 196.
42 Jones, Leben und Werk, I, S 384
43 SF-AF, S 88, Anm 1
44 Young-Bruehl, Anna Freud, I, S 82
45 Young-Bruehl, Anna Freud, I, S 148
46 StA VII, S 234
47 Vgl SF-AF, S 87, Brief v 26 November 1912, und die folgenden Briefe
48 SF-AF, S 94, Brief v 16 Dezember 1912
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anna Freud
- Untertitel
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Herausgeber
- Brigitte Spreitzer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Abmessungen
- 13.5 x 21.0 cm
- Seiten
- 144
- Schlagwörter
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Kategorien
- Weiteres Belletristik