Seite - 34 - in Anna Freud - Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Bild der Seite - 34 -
Text der Seite - 34 -
ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG
34
dass es nicht immer leicht auseinanderzuhalten sei, was dem Einfluß der
Sexualfunktion und was der sozialen Züchtigung zuzuschreiben sei – gebe
es keine originäre Kulturleistung auf das Konto des Weiblichen zu verbu-
chen als die der Erfindung des Flechtens und Webens, welche unter dem
Antrieb des Penisneides der Verhüllung des genitalen Mangels diene.129
Für Männer wie Weininger steht einfach fest, dass [a]lle wirklich nach
Emanzipation strebenden, alle mit einem gewissen Recht berühmten und
geistig irgendwie hervorragenden Frauen (…) stets zahlreiche männliche
Züge aufweisen.130 Karl Scheffler, zu seiner Zeit bekannter Kunstkritiker,
sieht es ebenso: Die Entwicklung einseitige[r] Talente resultiere aus einer
Verkümmerung der Gebärorgane, die Form einer regelrechten Krankheit
nehme diese Disposition auf Gebärunlust in den produktiven Kunstberufen,
in der Malerei und Poesie, an 131 Konkrete Verunglimpfungen weiblicher
Autoren – wie die Entwertung als kleine Litteratur-Gans durch Nietzsche,
die sich Helene von Druskowitz gefallen lassen muss, als sie seine Philo-
sophie kritisiert,132 oder Heinrich von Treitschkes Spott über Blaustrümpfe,
die die Feder statt der Nadel [schwingen]133 – sind keine Seltenheit Artis-
tentum im Gewande des Weibes, und als solches eine typische Erscheinung
jener gesellschaftlichen Dekadenz, die alle Maße leidlich gerechter Selbst-
einschätzung verloren hat134, wird Elsa Asenijeff vorgeworfen, und Rosa
Mayreder ringt zeitlebens mit dem Image der ›entarteten Gehirndame‹ 135
Im Anlauf auf das Gebiet der Literatur auf das (angeblich) genuin weib-
liche Handarbeiten zurückverwiesen zu werden, ist eine Erfahrung, die
1972 noch Ingeborg Bachmann macht, als sie ihren zweiten Band mit Er-
zählungen veröffentlicht und von einem Rezensenten zu lesen bekommt,
dass sie vom Augenblick des Prosatexthäkelns (…) nicht um einen Schritt
weitergekommen sei.136 Dass sich jüdische Frauen und Mädchen (…) fast
führend an gewissen modernsten Literaturbestrebungen beteiligen, wird
129 StA I, S 562
130 Weininger, Geschlecht und Charakter, S 80 f
131 Scheffler, Die Frau und die Kunst, S. 94, S. 96 f.
132 Nietzsche, Briefwechsel III,5, S 159
133 Treitschke, Deutsche Geschichte III, S 683
134 Geissler, Führer durch die deutsche Literatur, S. 12.
135 Vgl. dazu detailliert Spreitzer, Texturen, S. 110 ff.
136 Zit nach Hotz, Die Bachmann, S 162
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anna Freud
- Untertitel
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Herausgeber
- Brigitte Spreitzer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Abmessungen
- 13.5 x 21.0 cm
- Seiten
- 144
- Schlagwörter
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Kategorien
- Weiteres Belletristik