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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG 39
erkennen gibt: Am 25 Jänner 1924, als die produktive Phase schon mehr
oder weniger beendet war, schreibt sie an die Freundin: Weil ich aber ge-
rade bei Tagträumen bin, muß ich Dir etwas Merkwürdiges erzählen. Trotz-
dem ich ziemlich viel gerade jetzt zu tun hatte (für den Verlag zwei große
Übersetzungskorrekturen abzuliefern) sind in der vorigen Woche plötzlich
meine ›schönen Geschichten‹ wieder aufgewacht und haben tagelang di-
rekt getobt wie schon lange nicht. Jetzt schlafen sie wieder, aber es hat mir
imponiert, was für einen unveränderten Bestand und was für eine Kraft
und Anziehung so ein Tagtraum hat, selbst wenn er so gerupft, analysiert,
publiziert und auf alle mögliche Weise mißhandelt und geschunden worden
ist wie mein armer.160 – Das Phänomen des Tagtraums in seinen Bezie-
hungen zur Genese von Kunstprodukten, aber auch als Äußerungsform
verschiedener Pathologien – denn der Künstler habe es ja nicht weit zu
Neurose161 – hatte Freud selbst schon früh beschäftigt: Tagträume sind
das Rohmaterial der poetischen Produktion162; Dichtung wie Tagtraum er-
setzen das einstige kindliche Spielen Der Unterschied, so Freud in »Der
Dichter und das Phantasieren« (1907), ist kein fundamentaler, sondern ei-
ner der Form; Resultat der spezifischen Ars poetica, die den ästhetischen
anstelle des unverhüllt triebhaften Lustgewinns ermöglicht.163 1919 inter-
essiert ihn dann weniger das künstlerische Element des Tagträumens an
sich als die spezifische Fantasie »Ein Kind wird geschlagen« als »Beitrag
zur Kenntnis der Entstehung sexueller Perversionen«164 – jener Aufsatz,
zu dem ihr Vortrag, »Schlagephantasie und Tagtraum« nur eine kleine
Illustration sei, wie Anna 1922 einleitend festhält 165 Im Wesentlichen geht
es Freud hier um den Nachweis der ödipalen Genese von Tagträumen des
Musters ein Kind wird geschlagen, die damit als nicht genuin masochis-
tisch erkannt werden Hinter der Fantasie, der Vater schlage ein anderes
Kind, verbirgt sich der Wunsch, er möge nur das tagträumende lieben
In zweien der vier weiblichen Fälle habe sich über der masochistischen
160 LAS-AF, I, S 275
161 StA I, S 366
162 StA I, S 115
163 StA X, S. 171, 177 ff.
164 So Titel und Untertitel des kleinen Aufsatzes. StA VII, S. 229 ff.
165 Anna Freud, Schlagephantasie und Tagtraum, S 141
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anna Freud
- Untertitel
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Herausgeber
- Brigitte Spreitzer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Abmessungen
- 13.5 x 21.0 cm
- Seiten
- 144
- Schlagwörter
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Kategorien
- Weiteres Belletristik