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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG
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Adeligen, die sich gegen ihn verbündet haben. Im Verlaufe eines Handge-
menges gerät ein fünfzehnjähriger Junker, also ein Knabe in dem der Träu-
merin entsprechenden Alter, in die Gewalt der Knechte des Grafen und
wird auf die Burg gebracht. Er verbringt dort eine längere Zeit der Gefan-
genschaft, aus der er schließlich befreit wird. Die Tagträumerin führt nun
diese Handlung nicht einfach in aneinandergereihten Fortsetzungen, etwa
wie bei einem Zeitungsroman, weiter, sondern benützt sie nur als eine Art
äußeren Rahmens [!]. In diesen trägt sie lauter kleine oder größere, völlig
in sich abgeschlossene und voneinander unabhängige Szenen ein, von de-
nen jede einzelne wie eine wirkliche große Erzählung gebildet ist, also eine
Einleitung, Entwicklung und Steigerung bis zum Höhepunkt besitzt. Sie ist
dabei an kein logisch geordnetes Ausarbeiten des Stoffes gebunden, kann
je nach Stimmung zu einer früheren oder späteren Erzählungsperiode zu-
rückkehren und jederzeit zwischen zwei vollendete und zeitlich nebenein-
andergesetzte Szenen noch eine neue einfügen, bis schließlich der Rahmen
der Erzählung von der Fülle der darin untergebrachten Situationen fast
gesprengt wird.
In diesem einfachsten Tagtraum gibt es nur zwei wirklich handelnde Per-
sonen, alle übrigen kann man als nebensächliches Beiwerk beiseite lassen.
Die eine dieser Hauptpersonen ist der gefangene Knabe, den der Tagtraum
mit allen möglichen guten und einnehmenden Eigenschaften ausstattet, die
andere der Burggraf, der als finster und gewalttätig geschildert wird. Durch
allerlei aus der Vergangenheit und Familiengeschichte der beiden hinzuge-
fügte Details wird der Gegensatz zwischen ihnen noch verstärkt, also ein
Untergrund von scheinbar unversöhnlicher Feindseligkeit eines Mächtigen,
Starken gegen einen Unterworfenen, Schwachen geschaffen. Eine einlei-
tende Hauptszene schildert dann das erste Zusammentreffen der beiden, in
dem der Graf den Entschluß verrät, den Gefangenen durch Drohung mit der
Folter zu einem Verrat zu bewegen, dadurch wird in dem Knaben die Über-
zeugung seiner hilflosen Lage befestigt und seine Furcht vor dem Grafen
erweckt. Auf diesen beiden Momenten bauen sich dann alle weiteren Situa-
tionen auf. Zum Beispiel: Der Graf treibt es tatsächlich fast bis zur Folterung
des Gefangenen, läßt aber im letzten Augenblick von ihm ab; er richtet ihn
durch eine lange Kerkerhaft fast zugrunde, läßt ihn aber dann, noch ehe
es zu spät ist, pflegen und wieder gesunden, er bedrängt ihn nach seiner
Genesung von neuem, nur um ihn, von seiner Standhaftigkeit bezwungen,
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anna Freud
- Untertitel
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Herausgeber
- Brigitte Spreitzer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Abmessungen
- 13.5 x 21.0 cm
- Seiten
- 144
- Schlagwörter
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Kategorien
- Weiteres Belletristik