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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG
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die Rolle des Passiven, Schwachen (der Knabe des Rittertagtraums) auf
zwei Gestalten verteilt. Die eine dieser Personen erlebt dann – nach glei-
cher Vorgeschichte – die Strafe, die andere die Verzeihung. Die Strafszene
ist hier an sich nicht lust- oder unlustbetont, sie bildet nur den Hintergrund,
von dem die Liebesszene sich abhebt, und steigert deren Lustbetonung
durch den Gegensatz.– Eine andere Möglichkeit ist, daß der Tagtraum den
Passiven, während ihm Liebes zugefügt wird, in Gedanken eine vergange-
ne Strafszene wieder durchleben läßt; auch hier erhöht der Gegensatz die
Lustbetonung. Oder als dritte Möglichkeit: der Aktive, Starke erinnert sich,
während die versöhnliche Stimmung des Höhepunktes über ihn kommt, an
einen Straf- oder Schlageakt der Vergangenheit, in dem er, nach gleichem
Vergehen, der Erleidende war.
Das Schlagethema kann sich aber nicht nur wie in den eben geschilder-
ten vier Fällen neben dem eigentlichen Thema des Tagtraums durchsetzen,
sondern auch als wirkliches Hauptthema einer Tagtraumszene verarbeitet
werden. Bedingung dafür ist aber der Wegfall eines für die Schlagephan-
tasie unentbehrlichen Zuges, nämlich der Demütigung durch den Schlag.
So gibt es in der schon oft erwähnten Hauptgeschichte unseres Mädchens
einige besonders wirkungsvolle Szenen, deren Höhepunkte die Schilderun-
gen eines Schlages oder eines Strafaktes sind, aber der eine als unbeab-
sichtigt, der andere als Selbstbestrafung dargestellt. (…) Ist aber so die
Schlagephantasie eine Rückkehr des Verdrängten, nämlich der inzestuösen
Wunschphantasie, so sind andererseits die schönen Geschichten ihre Sub-
limierung.174
Im dritten Abschnitt ihres Vortrags geht Anna Freud nun auf die Um-
wandlung der ›hässlich-schönen‹ Geschichten in den geschriebenen Text
– in Literatur ein: Hier liegt eine schriftliche Fixierung des Rittertagtraums
vor, die von der Tagträumerin an einem bestimmten Zeitpunkt mehrere
Jahre nach seinem ersten Auftauchen angefertigt worden war. Diese Nie-
derschrift ist eine kurze, spannende Erzählung, deren Inhalt die Zeit der
Gefangenschaft des Junkers umfaßt. An ihrem Ausgangspunkt steht die
Folterung des Gefangenen, an ihrem äußersten Ende seine Weigerung, eine
Flucht zu versuchen. Man ahnt hinter diesem freiwilligen Verbleiben auf der
Burg seine Wendung zum Grafen. Alle Ereignisse sind als vergangen darge-
174 Anna Freud, Schlagephantasie und Tagtraum, S 153 u S 155
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anna Freud
- Untertitel
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Herausgeber
- Brigitte Spreitzer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Abmessungen
- 13.5 x 21.0 cm
- Seiten
- 144
- Schlagwörter
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Kategorien
- Weiteres Belletristik