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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG 45
stellt, eingekleidet in ein Gespräch des Grafen mit dem Vater des Gefange-
nen. (…)
Dieser Änderung im Aufbau entspricht eine Änderung im Mechanismus
der Lustgewinnung. Im Tagtraum bedeutete jede Neubildung oder Wieder-
holung einer Einzelszene eine neue Möglichkeit zur lustvollen Triebbefrie-
digung. In der geschriebenen Erzählung dagegen ist die direkte Lustgewin-
nung aufgegeben. Zwar geschah seine Niederschrift selbst noch in einem
Zustand beglückter Erregung, ähnlich dem Zustand beim Phantasieren. Die
fertiggeschriebene Erzählung aber ruft keine solche Erregung hervor. Ihre
Lektüre ist zur tagtraumhaften Lustgewinnung unverwendbar. Sie wirkt in
dieser Beziehung nicht anders auf die Verfasserin als die Lektüre irgendei-
ner fremden Erzählung ähnlichen Inhalts.
Wir kommen hier auf die Vermutung, daß die beiden wichtigen Unter-
schiede zwischen Tagtraum und Niederschrift – der Untergang der Einzel-
szenen und der Verzicht auf die tagtraumhafte Lustgewinnung an bestimm-
ten Höhepunkten – in engem Zusammenhang stehen. Die geschriebene
Erzählung muß aus anderen Motiven entstanden sein und anderen Zwe-
cken dienen als der Tagtraum. Sonst wäre die Rittergeschichte auf ihrem
Wege von der Phantasie zur Niederschrift einfach aus etwas Brauchbarem
zu etwas Unbrauchbarem geworden.175
Nicht einmal aus dem Briefwechsel mit Lou Andreas-Salomé erfahren
wir so viel über den Entstehungsprozess und die Inhalte dieser frühen,
nicht mehr erhaltenen Texte – Den Abschluss des Vortrags bilden (Sieg-
fried Bernfelds Ausführungen zum dichterischen Schaffen Jugendlicher176
weiterführende) Überlegungen zur Funktion der schriftlichen Fixierung
der Fantasie-Geschichten: Im Dienste von ehrgeizigen Strebungen (…)
wird aus der privaten Phantasie eine für andere bestimmte Mitteilung. Bei
dieser Umwandlung werden alle Rücksichten auf die persönlichen Bedürf-
nisse der Träumerin durch Rücksichten auf die erhofften Leser ersetzt. Der
direkte Lustbezug aus dem Inhalt der Niederschrift kann ausbleiben, weil
175 Anna Freud, Schlagephantasie und Tagtraum, S 157 f
176 Siegfried Bernfeld hatte 1919 unter dem Titel »Das Dichten Jugendlicher« sei-
nen Aufnahmevortrag vor der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ge-
halten LAS-AF, II, S 680 Seine Sammlung von Aufsätzen zu diesem Thema
erschien 1924 im Internationalen Psychoanalytischen Verlag
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anna Freud
- Untertitel
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Herausgeber
- Brigitte Spreitzer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Abmessungen
- 13.5 x 21.0 cm
- Seiten
- 144
- Schlagwörter
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Kategorien
- Weiteres Belletristik