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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG 47
sein«, die man aus dem Munde eines Literaturwissenschafters in Zeiten
poststrukturalistischer Theorieaufbauten zunächst nicht für ganz ernst
gemeint halten möchte »Man zögert, die Sache einfach so hinzuschrei-
ben Es muß aber doch geschehen Das Gedicht will schön sein. Das ist
seine Peinlichkeit, sein Skandal, ist der Dorn im Auge des regierenden
Kunstbegriffs. (…) Das nachweisbare Ereignis des Häßlichen im Gedicht
der Moderne widerlegt das Prinzip nicht, daß das Gedicht schön sein
will « Und weiter: »Hinter dem Gedicht steht der Stachel einer einzigen
Idee: der Vollkommenheit « 179 Mit Donald Meltzer, der in seinem Werk
die Objektbeziehungs- mit der Kunsttheorie vermittelt hat, finden wir in
diesem Stachel den Niederschlag des in jedem Menschen lebenslänglich
wirkenden ›ästhetischen Konflikts‹; des Konflikts, in den das Baby stürzt,
wenn es die seinen Sinnen zugängliche Schönheit der Mutter zugleich
mit »der Rätselhaftigkeit ihres Inneren, das e[s] mit seiner kreativen
Vorstellungskraft konstruieren muß«, zu überwältigen droht.180 ›Schöne
Geschichten‹ sind somit zugleich Reflex der ästhetischen Ur-Erfahrung,
Konfliktbewältigung und der Schritt vom äußeren Du ins innere Ich, das
zu erschaffen vermag, was ungreifbar bleibt. Vielleicht weisen sie, was
Anna Freud betrifft, aus der ödipalen Vater- in eine präödipale Mutter-
welt zurück und gleichzeitig voraus in eine Welt jenseits neurotischer
Fixierung, die sich auf der Basis ihrer kreativen Kraft, ihres schöpferi-
schen Potentials entfalten könnte
In den ersten Jahren ihrer Freundschaft scheint es Lou Andreas-Salo-
més Anliegen gewesen zu sein, sich an dieser Entfaltung zu beteiligen
Vom Tagträumen berichtet Anna in ihren Briefen an sie ebenso wie von
der voranschreitenden Ausbildung zur Psychoanalytikerin, von ›schönen
Geschichten‹ ebenso wie von Romanprojekten, und immer wieder dre-
hen sich die Dialoge um eine Theorie von Kreativität Genauso zu diesem
kreativen Austausch gehören die Kleidungsstücke, die Anna im Laufe
der Jahre für Lou strickt und häkelt. Einen »Strickwarenexzess« nennt
L. Lütkehaus das, der in der Edition der Briefe bei allem Respekt vor psy-
choanalytisch ›gleichschwebender Aufmerksamkeit‹ Reduktion durch
179 von Matt, Die verdächtige Pracht, S 11 u S 14
180 Meltzer, Harris Williams, Die Wahrnehmung von Schönheit, S 47 und passim
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anna Freud
- Untertitel
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Herausgeber
- Brigitte Spreitzer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Abmessungen
- 13.5 x 21.0 cm
- Seiten
- 144
- Schlagwörter
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Kategorien
- Weiteres Belletristik