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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG
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rer Ruhe darüber.317 Manchmal gehe sie mit einem großen Wirr herum, zur
Abwechslung und Erholung vom vielen Vernünftigsein.318 Wohl macht Lou
sich Sorgen, dass in Annas Leben nicht genug freie Abfuhr in’s Selbstge-
wählte ist und ihre Natur dran schwer tragen, – d. h. schwer werden könnte,
– zu ergeben 319 Aber den Ausweg – Autonomie und Expansivität zu beja-
hen – sieht sie nicht. Aufhorchen lässt ein Brief Annas vom 1. Juni 1925, der
deutlicher als alle anderen zaghaften Versuche zum Ausdruck bringt, dass
Anna ihr Gefängnis kennt: Wenn Du in den letzten vierzehn Tagen aus der
Entfernung unser Haus gesehen hättest, wärest Du erschrocken. Es ist von
außen gestrichen worden, man hat also ein großes Gerüst um uns herum
gebaut, auf dem den ganzen Tag sechzehn halbnackte Arbeiter herumge-
stiegen sind und sich bemüht haben, uns Schutt, Mörtel, Kalk und ähnliches
auch noch durch die fest geschlossenen Scheiben ins Zimmer zu schicken.
(…) Merkwürdig war aber etwas dabei: nämlich daß es eigentlich nur die
allerersten Tage arg war, dann hat man sich an diesen Zustand gewöhnt.
Und ich glaube, wenn plötzlich aus irgendeinem plausiblen Grund einem hier
alle Fenster zugemauert würden, für immer noch dazu, so würde man es
zwar den ersten Tag etwas dunkel finden, dann aber das künstliche Licht
anzünden, ruhig weiteranalysieren und sich auch daran gewöhnen. Es sind
wirklich nur Gradunterschiede von Eingesperrtsein, so ähnlich wie in dem
Beispiel von dem Kind, das du mir einmal erzählt hast: es mußte immer auf
einem Sessel sitzen und durfte nicht aufstehen; aber es hat gemeint, das ist
in der Ordnung so.320 Langsam scheint es Anna nicht mehr so in der Ord-
nung zu finden und sucht im Laufe der nächsten Jahre ihren Freilauf aus
dem Gefängnis Ihre Stimme in den Briefen bekommt langsam andere
Tönungen – hörbar etwa ab 1925 Die Analyse ist seit Mitte 1925
abgeschlossen,321 sie wurde zum Mitglied des Unterrichtsausschusses des
Wiener Psychoanalytischen Instituts ernannt und nahm damit ihre Arbeit
als Lehranalytikerin auf,322 gegen Ende 1924 hatte sie Eva Rosenfeld ken-
317 LAS-AF, I, S 206
318 LAS-AF, I, S 413
319 LAS-AF, I, S 200
320 LAS-AF, II, S 450
321 SF-AF, S 222, Anm 3
322 Young-Bruehl, Anna Freud, I, S 201
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anna Freud
- Untertitel
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Herausgeber
- Brigitte Spreitzer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Abmessungen
- 13.5 x 21.0 cm
- Seiten
- 144
- Schlagwörter
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Kategorien
- Weiteres Belletristik