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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG
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leben der Auflösung einer konsistenten Realität führt seit der Jahrhun-
dertwende zunehmend zum Verzicht auf kausales Erzählen; lyrische und
dramatische Kleinformen, skizzenhafte Prosastücke versuchen das Un-
feste und Flüchtige, das tendenziell Unauslotbare des Lebendigen in Mo-
mentaufnahmen festzuhalten 404 Anna Freuds ›Prosastückchen‹ stehen in
diesem Kontext avancierter Schreibexperimente europäischer Autoren
und Autorinnen seit dem Ende des 19 Jahrhunderts 405 Dort, wo keinerlei
erzählerischer Rahmen skizziert wird, nähern sich ihre Kürzesttexte dem
Prosagedicht, einem Textmodell, das für junge Autoren der Zeit wie etwa
auch Hofmannsthal oder Altenberg den »Reiz des Unbekannten und Inno-
vativen, zudem Fremdartigen hatte« 406 Als Genre, das Gattungsgrenzen
sprengt, steht das Prosagedicht literarhistorisch betrachtet für das Bemü-
hen der künstlerischen Avantgarde, spezifische Modernitätserfahrungen
ästhetisch umzusetzen 407 Es wäre demnach allzu vereinfachend, Anna
Freuds Prosa formal als Ausdruck künstlerischen Scheiterns und inhalt-
lich als Ausdruck misslingender Selbstschöpfung zu betrachten Sie steht
in ihrem fragmentarischen Charakter auch für die spezifische Wirklich-
keitserfahrung der Moderne, wie sie die Schriftsteller des Jungen Wien
ästhetisch umzusetzen versuchten, und in ihrem thematischen Fokus auf
die Flüchtigkeit, Vergänglichkeit, auf die Todesgeneigtheit des Lebens für
eine Seinserfahrung, wie sie die Kinder des Fin de siècle prägte 408 Ähnlich
wie die Lyrik kennzeichnen vor diesem Hintergrund Themen wie Aktivität
und Passivität, Abschied, Aufbruch und die Suche nach einer Bleibe, in der
das Fremdsein aufgehoben wäre, sowie immer wieder eben die Wahrneh-
mung des Vergänglichen, Angst vor dem Tod und Sehnsucht danach die
Texte. Expansionsbewegung und Paralyse-Erleben, wie sie für fast alle die-
se Texte charakteristisch sind, treffen im Symbol des Schiffes aufeinander:
In der Prosaskizze »Am Schiff«409, die unter dem Eindruck der Rückreise
aus England im Jahr 1914 entstand, erscheint diese (scheinbare) Paradoxie
404 Fritz, Impressionismus, S 186 f
405 Bunzel, Das deutschsprachige Prosagedicht, S 4
406 Bunzel, Das deutschsprachige Prosagedicht, S 248
407 Vgl. dazu auch Bunzel, Das deutschsprachige Prosagedicht, S. 3 ff.
408 Fritz, Impressionismus, S. 185 ff.
409 Nr. 34
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anna Freud
- Untertitel
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Herausgeber
- Brigitte Spreitzer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Abmessungen
- 13.5 x 21.0 cm
- Seiten
- 144
- Schlagwörter
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Kategorien
- Weiteres Belletristik