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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG 87
in Bildern des kaum bewegten Meeres, auf dem das Schiff sich den Weg
sucht, von Müdigkeit und Ungeduld, die beide gewahrt werden wollen,
von Heimatsehnsucht und dem Gefühl einer ungeheuren Machtlosigkeit,
das langsam zu einer müden Ergebung wird. Und es begegnet erneut in
einem Prosagedicht von 1921, wo das Ich, die Ruder eingelegt, sein Schiff
dem Wind übergebend, in der Mitte des Sees reglos stehen bleibt.410 Oder,
zu drei Sätzen verdichtet, 1920: Gefangen sind wir im Raume des Lebens,
wie ein Schiffer im Nachen auf dem unendlichen Weltmeer. Um uns ist die
unbegrenzte Weite, die uns einlädt. Wir aber haben nichts als ein Ruderpaar,
ohnmächtig wie die Flügel einer Mücke, und schmerzende Hände.411 – Ins
Genre der Prosaskizze fügt sich ein Text, der Anfang Jänner 1919 entstan-
den sein muss 412 Er stellt im vorhandenen Textkorpus insofern ein Unikat
dar, als er – zu diesem frühen Zeitpunkt! – in englischer Sprache verfasst
wurde Thema ist die im Titel apostrophierte ›Verschwendungssucht‹, die
die Wiener Bevölkerung im Angesicht der verheerenden Folgen des Ers-
ten Weltkriegs erfasst habe
Von ganz anderem Ton sind die Gelegenheitsgedichte und -verse, die
Anna Freud ab 1926 schreibt: leicht, witzig, die Versiertheit im Umgang
mit der Sprache spielerisch in Knittelversen zeigend Ein Mal sind es
schlicht gereimte Zweizeiler im Album von Hochrotherd, in denen Ich, Wir
und Du deckungsgleich mit Anna, Dorothy und Sigmund, also unfiktiona-
lisiert bleiben, die Literarisierung der Sprache durch Rhythmus und Reim
jedoch bewusst Poetizität schafft. Ein Mal leiht Anna ihre Stimme der
kleinen Anna Fadenberger, die von Hochrotherd herein zu den Städtern
kommt, um Sigmund und Martha Freud zur Goldenen Hochzeit zu gratu-
lieren 413 Aber zumeist spricht Wolf, der Hund Menschliches anstrebend
und doch ihm überlegen. Von animalischer Unbekümmertheit und doch
philosophisch Triebeshalber unbezähmbar und doch unwandelbar treu
Durch schamloses Fressen und Wegfressen hilfreicher und verlässlicher
als Freuds Prothese beim Verzehr von oftmals zu harten Speisen Anlass,
dass der Hund zum Poeten sich wandelt, sind Freuds Geburtstage, die er,
410 Nr. 50
411 Nr. 43
412 Nr. 35
413 Nr. 31
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anna Freud
- Untertitel
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Herausgeber
- Brigitte Spreitzer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Abmessungen
- 13.5 x 21.0 cm
- Seiten
- 144
- Schlagwörter
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Kategorien
- Weiteres Belletristik