Seite - 29 - in Anton Kuh - Biographie
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verrat; Dr. Kramař und Masaryk, slowenische Studenten, polnische
und ruthenische Parlamentarier, gelehrte Arbeiterführer – der fanati-
sche Leit artikel. Der Kaffee roch wunderbar, und auf dem großen
Rundtisch schichteten sich die Zeitungen in allen Landessprachen. /
Dort hinten aber residierte das Feuilleton. / Es schleppte sich um die
Jahrhundertwende als Rattenschweif Peter Altenbergs ein, des ersten
und eigentlichsten Kaffeehausdichters, der nebenan im alten Absteig-
hotel › London‹ wohnte, inmitten improvisierter Liebespaare, aber als
seine Adresse in den Kürschner eintrug: ›Wien, 1. Bezirk, Café Cen-
tral‹!«73 – »Café Central« lautet auch die Adresse einer an Anton Kuh
gerichteten Ansichtskarte aus dem Sommer 1917 sowie eines Tele-
gramms vom Mai 1918.74
Im Windschatten des politischen Umsturzes vollzieht sich im No-
vember 1918 eine »Sezession im Wiener Geistesleben«, soll heißen: eine
Kaffeehaus-Sezession. Zwei Tage nachdem vom Balkon des Landhauses
schräg vis-à-vis dem »Central« aus die Republik Österreich ausgerufen
worden war, »saß alles, was politisch und erotisch revolutionär gesinnt
war, drüben im neuen Café [zwei Häuser weiter, W. S.] – die Mumien
blieben im alten«75 –: im neueröffneten Café Herrenhof (Herrengasse
10).
Daß auch Kuh dem grabeskühlen »Asyl der Resignationen, bewohnt
von Klausnern, die sich alle gern den einstigen Karl V. vom Gesicht
ablesen ließen«, den Rücken kehrt, versteht sich.
Patron des »Herrenhof« ist »nicht mehr Weininger, sondern Dr. Freud;
Altenberg wich Kierkegaard; statt der Zeitung nistete die Zeitschrift;
statt der Psychologie die Psychoanalyse, und statt des Espritlüftchens
von Wien wehte der Sturm von Prag. / Daher war die Luft zunächst
antiwienerisch, europäisch. Man debattierte zwar wieder (was durch
Tarock, Schach und Poker bereits aus der Mode gekommen war), aber
nicht mittels Bonmots und Pointillismen, sondern mit Skalpmessern
und unter gleichzeitiger Wegnahme einer Geliebten. / Das war vor
allem der Fortschritt: es ging an jedem Tisch Wichtigstes, Beziehungs-
vollstes vor, oft unter Begleitung von Kokain
– ja, und an die Stelle des
Wortes ›Verhältnis‹ war jetzt überhaupt die Vokabel ›Beziehung‹ getre-
ten. / Der Aktivismus zog ein: Werfel, Robert Müller, Jacob Moreno-
Levy.«76
Die plüschgepolsterten Halbkreis-Logen des ausladenden, von einem
Glasdach erhellten Mittelsaals des »Herrenhof« – sie bieten für fünf,
sechs Personen Platz, sind bei Bedarf auch mit Stühlen zu einem Kreis
erweiterbar, der acht bis zehn Personen Platz bietet – sind die Zentren
des literarischen Treibens des Kaffeehauses: »Wortschlachten und
Sexualgefechte«.77
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Buch Anton Kuh - Biographie"
Anton Kuh
Biographie
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anton Kuh
- Untertitel
- Biographie
- Autor
- Walter Schübler
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3189-1
- Abmessungen
- 13.8 x 22.2 cm
- Seiten
- 576
- Kategorie
- Biographien