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Im Klub deutscher Künstlerinnen warten am Freitag, dem 19. Januar
1917, um halb acht Uhr abends mehr Menschen, als der große Saal zu
fassen vermag, gespannt darauf, was der Sproß der alteingesessenen Pra-
ger Publizistenfamilie über Gustav Meyrinks »Golem« zu sagen
habe. Angekündigt ist nicht eine literaturwissenschaftliche
Interpretation, sondern nichts Geringeres als der »Schlüssel
zum Meyrinkschen Traumschloß«. Die Tür zu Meyrinks Welt
könne jeder öffnen, »denn jeder Mensch steht zwischen Tod und
Leben, Traum und Wirklichkeit. Wie jeder einzelne zu sich
selbst, zum visionären Sehen und Verstehen kommen kann«,
das werde der Inhalt des Vortrags sein.136 Anton Kuh enttäuscht sein
Auditorium nicht. Er hält das enthusiasmierte Publikum mit seiner
eindringlichen Beredsamkeit fünf Viertelstunden lang in gebannter Auf-
merksamkeit. Die »Deutsche Zeitung Bohemia« attestiert dem Sohn
Emil und Enkel David Kuhs nach dessen »in fesselndster, pointierter,
weite geistige Rundblicke eröffnender Form« präsentierten Darlegun-
gen, »daß er den Geist dieser glänzenden Meister des literarischen
Feuilletons geerbt« habe.137 Eine ausführliche Besprechung des Vortrags
im »Prager Tagblatt« hebt auf einen Vorzug des frei, aus dem Stegreif
Sprechenden ab: »Anton Kuh ist im besten Sinn des Wortes Conféren-
cier; er beherrscht die Technik des Sprechens, seine Stimme hat den
großen Klang und das Pathos, er ist dabei aber stets der natürliche,
gänzlich posenfreie Sprecher, dem es gelingt, auch sehr komplizierte
Gedankengänge durch eine Art der Transponierung des Abstrakten ins
Anschauliche deutlich zu machen.« Von den »zweierlei Arten des
Verstehens« sei der Vortragende ausgegangen, »dem rein intellektuel-
len Erfassen eines Kunstwerks, das Meyrink nicht gerecht werden
kann, und der zweiten Art, die eine Stimmungsbereitschaft« erfordere.
Zum Verständnis des »Golem«, den Kuh als »rekonstruierten Traum«
liest, brauche es eine »inspiratorische Traumstimmung«, in der das
»Wunschlicht der Seele« alle »unterirdischen und doch taghellen Fäden«
zu erfassen vermöge. Fazit: »Hier hat wirklich ein genialer Mitempfinder
und Versteher eine Welt beleuchtet, die dem stumpfen Blick wie dem
bloßen Intellekt ewig verschlossen bleibt.«138
Prag, Klub
deutscher
Künstlerinnen,
19.1.1917,
19.30 Uhr:
Über Meyrinks
»Golem«
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