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Kleinstaats von sechseinhalb Millionen Einwohnern geschrumpft. In
Kuhs Worten: »Nach Abwanderung der anderen Staaten aus dem
Stammlokal ›Großösterreich‹129 [war] Österreich […] am Marsch. (Pho-
netisch zu lesen.)«130
So sieht das nicht nur ein Großteil der Bevölkerung des Reststaats,
sondern auch die Provisorische Nationalversammlung, die am 12. No-
vember 1918 die Annahme der elf von Karl Renner verfaßten Artikel
des »Gesetzes über die Staats- und Regierungsform von Deutschöster-
reich« beschließt. Artikel 2: »Deutschösterreich ist ein Bestandteil der
Deutschen Republik.« Die verfassunggebende Nationalversammlung
erklärt Deutschösterreich am 12. März 1919 neuerlich zu einem Teil der
Deutschen Republik. Erst durch das Veto der Alliierten zum Anschluß
an Deutschland im Friedensvertrag von Saint-Germain am 10. Septem-
ber 1919 ist die Anschlußfrage – bis zum Jahr 1938 – offiziell vom
Tisch, bleibt jedoch politisches Dauerthema.131
Die ersten Wochen und Monate der jungen Republik Deutschöster-
reich sind geprägt von Chaos, Hunger und Not. Es gibt keine Lebens-
mittel, keine Kohle, keinen elektrischen Strom. Eine Grippeepidemie
fordert im Winter 1918/1919 unter der entkräfteten Bevölkerung zudem
allein in Wien Tausende Opfer. Von den Fronten fluten Hunderttau-
sende Soldaten der ehemaligen Monarchie zurück in ihre Heimat(en),
in die neu gegründeten Nationalstaaten. Die Kronenwährung hat emp-
findlich an Wert verloren. Die Kriegsanleihen, in die viele Menschen
ihre Ersparnisse investiert hatten, waren wertlos geworden.
Durch revolutionäre Umbrüche nach dem Muster der Rätediktaturen
in Budapest und München droht der jungen Republik kaum ernsthaft
Gefahr, auch wenn Arbeiter- und Soldatenräte gebildet und eine kom-
munistische Partei gegründet werden, die die sozialistische Gesellschafts-
ordnung als Ziel und den Klassenkampf als Mittel der Emanzipation
des Proletariats definieren, und auch wenn die »Rote Garde« bei den
schweren Unruhen Ende Oktober, Anfang November das Straßenbild
bestimmt. Diese linksrevolutionäre bewaffnete Truppe, die sich am
31. Oktober 1918 auf Initiative von »Korporal Haller« (d. i. Bernhard
Förster) und Oberleutnant Egon Erwin Kisch bei einer Versammlung
vor dem Deutschmeister-Denkmal formiert
– anfangs circa 200 Mann,
ab Mitte November zwischen 400 und 500
–, ist der Bürgerschreck der
ersten Novembertage. Sie läßt sich im Dezember nicht, wie vom Staats-
sekretariat für Heerwesen vorgesehen, auf den »freien Staat Deutsch-
österreich« vereidigen, weil sie nicht gewillt ist, dem Staatsrat, der »zum
größten Teil aus Vertretern der Kapitalisten, Kriegshetzer und Kriegs-
wucherer« bestehe und nicht »das Vertrauen des Volkes« genieße,
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Buch Anton Kuh - Biographie"
Anton Kuh
Biographie
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anton Kuh
- Untertitel
- Biographie
- Autor
- Walter Schübler
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3189-1
- Abmessungen
- 13.8 x 22.2 cm
- Seiten
- 576
- Kategorie
- Biographien