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Probe aufs Exempel: Am Abend des 12. November 1920 stürmt der
Hauptmann a. D. Hermann Freist im »Café des Westens« einen der
Literatentische, zerdeppert das Geschirr und schlägt Anton Kuh ins
Gesicht – »ohne jede andere Veranlassung als die, daß ihn, den
Orgeschmann,* infolge seiner Trunkenheit, die ganze Macht der Ge-
wohnheit aus der Wilhelminischen Muskel- und Militärdiktaturzeit
überkam und also ein Grimm in ihm aufstieg gegen ein geistiges Ant-
litz, das derzeit nicht mehr von einer Helden- und Kanonenfutter-
uniform entstellt war. Während um den überfallenen Tisch die empörten
Gäste sich sammelten, um den Hauptmann Freist in die Wirklichkeit
einer halbwegs republikanischen Freiheit zurückzurufen, erschien
stockschwingend ein Herr namens Stephan Wassermann, der, unvermit-
telt zwar, aber offenbar aus angeborener Veranlagung gegen ›die Juden‹
zu wüten anfing und die weiblichen Gäste des Cafés in jener gewählten
Weise beschimpfte, wie sie im Zeichen des Hakenkreuzes selbstverständ-
lich und bei rechtsseitigen Putschorganisationen üblich ist«, berichtet
Joseph Roth, offenbar Augenzeuge, tags darauf in der »Neuen Berliner
Zeitung«.76
Nicht über Wilhelm II., wie der Titel der Stegreif-Rede, »Kaiseris-
mus«, nahelegt – ein Schmähbegriff der Entente-Presse für den deut-
schen Potentaten und dessen Gewese –, sondern über die »Neben-
erscheinungen des Falles Georg Kaiser«77 spricht Anton Kuh
am Abend des 19. November 1920 im Graphischen Kabinett.
Der expressionistische Autor, der gerade dabei ist, zum meist-
gespielten Dramatiker auf deutschen Bühnen zu werden, wird
Mitte Oktober auf Veranlassung der Münchner Staatsanwalt-
schaft aus dem Berliner Hotel Esplanade heraus fest- und unter
großem Aufsehen in Untersuchungshaft genommen. Kaiser und seiner
Ehefrau Margarethe wird zur Last gelegt, daß sie zwischen Sommer
1919 und Sommer 1920 wertvolles Mobliliar aus einer von ihnen ge-
mieteten Münchner Wohnung und einer Tutzinger Villa sowie ihnen
anvertraute Gemälde und Schmuck verkauft und verpfändet haben.
Gesamtschaden: 150.000 Reichsmark. Freunde bemühen sich um die
Verlegung des geistig Zerrütteten in ein Sanatorium, der Schutzverband
deutscher Schriftsteller verwendet sich beim Bayerischen Justizministe-
rium für Kaiser: »Seine anerkannte Bedeutung als Dichter erfordert die
Zubilligung aller erdenklichen Freiheiten im Rahmen der Gesetze,
* Orgesch: kurz für Organisation Escherich (vom bayerischen Forstrat Georg
Escherich gegründeter republikfeindlicher, rechtsextremer »Selbstschutz-
verband« gegen den »roten Terror«). Berlin,
Graphisches
Kabinett,
19.11.1920,
20 Uhr:
»Kaiserismus«
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Buch Anton Kuh - Biographie"
Anton Kuh
Biographie
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anton Kuh
- Untertitel
- Biographie
- Autor
- Walter Schübler
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3189-1
- Abmessungen
- 13.8 x 22.2 cm
- Seiten
- 576
- Kategorie
- Biographien