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1920 spitzen sich die politischen Gegensätze zu. Die mit den »Genfer
Protokollen« vom 4. Oktober 1922 eingeleitete Stabilisierung der Wäh-
rung und Sanierung der Wirtschaft (»Genfer Sanierung«) ist mit einer
rigorosen Austeritätspolitik teuer erkauft: Österreich tritt einen Teil
seiner finanz- und währungspolitischen Souveränität an den Völkerbund
ab, verpflichtet sich zum Abbau Hunderttausender Staatsangestellter,
zur Verpfändung der Zölle und des Tabakmonopols. Zudem wird das
Land unter Kuratel gestellt: Alfred Zimmerman, der ehemalige Bürger-
meister Rotterdams, wacht von Mitte Dezember 1922 bis Ende Juni 1926
als Völkerbundkommissär über die Verwendung der Anleihegelder.
Die Verzweiflung der notleidenden Bevölkerung macht sich in Hun-
gerrevolten und Plünderungen Luft, etwa am Donnerstag, 1. Dezember
1921, dem »Spiegelscheibentag«: Floridsdorfer und Stadlauer Metall-
arbeiter treten in den Vormittagsstunden aus Protest gegen die sprung-
hafte Teuerung von Lebensmitteln in den Streik. Sie beschließen, in die
Innere Stadt zu marschieren, um dem Parlament einen Forderungs-
katalog zu überreichen. Schon beim Anmarsch durch den zweiten resp.
den zwanzigsten Wiener Gemeindebezirk werden Kaffeehäuser ver-
wüstet, alle Fensterfronten der großen Ringstraßencafés zertrümmert,
Einrichtung und Inventar demoliert. Am frühen Nachmittag rücken
auch Abordnungen aus den westlichen Bezirken Fünfhaus, Ottakring
und Hernals auf die Innere Stadt zu. Etwa 30.000 Demonstranten sind
schließlich vor dem Parlament versammelt. Bei den Ausschreitungen
im Anschluß an die Auflösung der Demonstration kurz vor Einbruch
der Dunkelheit, gegen halb fünf Uhr, werden vornehmlich am Ring, am
Graben, in der Kärntner Straße, der Wollzeile und in der Rotenturm-
straße Cafés, Geschäfte und Hotels devastiert und geplündert. Insbeson-
dere in Luxus-Etablissements wie dem »Sacher«, dem Hotel Bristol, dem
Grand Hotel, dem Hotel Imperial und dem Schwarzenbergkasino bleibt
überhaupt nichts ganz.20
Anton Kuh warnt in der aufgeheizten Atmosphäre unentwegt vor
Kleingeisterei und Chauvinismus, schreibt gegen totalitäre Tendenzen
an, insbesondere gegen den heraufdämmernden Nationalsozialismus.
Er weiß die bösen Zeichen an der Wand zu deuten: den wachsenden
Antisemitismus, das selbstmörderische Trugbild »Anschluß«. Er kom-
mentiert bitter die sogenannten Fememorde in der Weimarer Republik
–
am 26. August 1921 wird Matthias Erzberger von Mitgliedern der
rechtsextremen »Organisation Consul« (einer geheimen Nachfolge-
organisation der Marine-Brigade Ehrhardt) und des Freikorps Ober-
land ermordet;21 am 24. Juni 1922 Walther Rathenau;22 am 3. Juli 1922
Maximilian Harden angegriffen und lebensgefährlich verletzt23 – und
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Buch Anton Kuh - Biographie"
Anton Kuh
Biographie
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anton Kuh
- Untertitel
- Biographie
- Autor
- Walter Schübler
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3189-1
- Abmessungen
- 13.8 x 22.2 cm
- Seiten
- 576
- Kategorie
- Biographien