Seite - 201 - in Anton Kuh - Biographie
Bild der Seite - 201 -
Text der Seite - 201 -
201
»die Dinge verächtlich durchschauen zu dürfen, ohne sie überhaupt
noch erlebt zu haben! Also: Taschenlexika der Informiertheit – ohne
die Mühe und Produktivität des Lokalaugenscheines.«
Was prädestiniert Karl Kraus zum »Gott des Intelligenzplebejer-
tums«? fragt Kuh, und hier wird es von Zwischenrufen und Gegen-
rufen wieder laut im Saal, während der eine Teil des Publikums vor
Empörung tobt, erntet Kuh vom anderen stürmischen Beifall. Seine
Bitten um Ruhe fruchten nichts, Tumulte und Raufhändel im hinteren
Parterre, die Sicherheitswache führt wieder einige Ruhestörer ab. Erst
allmählich tritt wieder Ruhe ein.
Heiterkeit erntet Kuh, als er Kraus in die Pflicht nimmt und ihn
– so
wie Kraus Heine für den Feuilletonismus
– für seine Anhänger verant-
wortlich macht: »An seinen Früchteln sollt ihr ihn erkennen«; Em-
pörung, als er daran erinnert, wie despektierlich Kraus sich wiederholt
von seinem Anhang distanziert hat. Andererseits aber, fährt Kuh fort,
ohne sich durch die empörten Zwischenrufe der entrüsteten Kraus-
Anhänger beirren zu lassen, genieße Kraus mit »unverkennbarer podi-
umsbehüpfender Freude« den Applaus, den ihm jene spenden, über die
er sich bei anderer Gelegenheit verächtlich äußert. Kuh erweist sich
dabei als »gedächtnisstarker Leser der ›Fackel‹«, er sucht, indem er in
seinen Ausführungen fortfährt, die Konfrontation, reizt mit seinem
angriffslustigen Spott – »Ich scheine ein besserer Leser Ihres Heilands
zu sein als Sie!« – die einen Zuhörer zu Protestrufen, die anderen zu
Heiterkeit und Beifall, bringt die Unruhestifter und Zwischenrufer
schlagfertig durch witzige Bemerkungen zum Schweigen und nimmt
damit das übrige Publikum für sich ein.
Kuh äußert sich durchaus respektvoll über Kraus, den man
– außer-
halb der »Tinnef-Hierarchie«
– als hervorragende Begabung bezeichnen
könne, die, »durch die Verpöbelung der intellektuellen Gesellschaft und
des Geisteslebens in Österreich dazu gezwungen, gerade vis-à-vis dem
Journalismus einen kleinen roten Trafikladen ›Antijournalismus‹ eta-
bliert hat und als begabtester Journalist der wienerischen Gegenwart der
große Pressebekämpfer wurde, mit allen Befähigungen, sprachstark,
witzig, erkennerisch und vor allem […]: ein genialer Ausschneide-
Redakteur, dessen Luchsblick und Schere nicht der kleinste Druckfeh-
ler entgeht.«
Drei Befähigungen hebt Kuh hervor, die Kraus zu einem »außer-
ordentlich oppositionellen, rebellenhaften und unabhängigen Journa-
listen teils machte[n], teils hätte[n] machen können«: den »detektivi-
schen Blick«, das »Talent zur Schauspielerei« und das »advokatorische
Gehirn«.
zurück zum
Buch Anton Kuh - Biographie"
Anton Kuh
Biographie
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anton Kuh
- Untertitel
- Biographie
- Autor
- Walter Schübler
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3189-1
- Abmessungen
- 13.8 x 22.2 cm
- Seiten
- 576
- Kategorie
- Biographien