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Bemerkenswert auch, wie die Aussagen der Angeklagten vor Gericht
perspektiviert sind: Immer, wenn sie zu Intima befragt wird, ist im
Hintergrund der Richtertisch zu sehen. »Ihr Eheleben spielt sich also
gleichsam vor dem großen Publikum ab
– drastischer kann die Schwie-
rigkeit der Enthüllung privater Dinge in der Öffentlichkeit kaum ver-
mittelt werden«, bringt Siegfried Kracauer diesen Aspekt des Prozesses
auf den Punkt41 und markiert damit auch die Stoßrichtung, die Kuh
unübersehbar angelegen war. Wenn er gleichsam einen Indizienbeweis
der Fragwürdigkeit von Indizienbeweisen führen wollte, dann ist ihm
das, folgt man der Niederschrift der Berliner Film-Oberprüfstelle vom
19. März 192842, gelungen.
Diese Oberprüfstelle weist die Entscheide, die zweimal ein Verbot des
Films nach sich gezogen hatten, teilweise zurück, beharrt aber auf der
Eliminierung eines ganzen Aktes, in dem die Angeklagte als Opfer »ge-
richtlicher Folterung« erscheint und »zur Märtyrerin und zum Gegen-
stand des Mitleids des Beschauers gemacht wird«, sowie jener »Bildfol-
gen […], die geeignet sind, das Vertrauen des Volkes in die Ausübung
der Rechtspflege zu erschüttern und damit die öffentliche Ordnung zu
gefährden«. Es mußten also etwa einige Passagen geschnitten werden,
in denen ein beisitzender Richter schläft; eine Szene, in der einer der
Geschworenen beim Betrachten eines Aktbildes der Angeklagten sich
ein Monokel einklemmt und die hinter ihm stehenden Geschworenen
das Photo der ehemaligen Tänzerin stieräugig verschlingen; und Sze-
nen, die »geeignet sind, Zweifel in die Objektivität des Staatsanwalts
und damit der Rechtspflege, deren Organ er ist, zu setzen«.
Auch wenn der Film an zwei Dutzend Stellen geschnitten werden
mußte, blieb die Darstellung der Gerichtsverhandlung deutlich genug
satirisch. Er erntete durchwegs sehr gute Kritiken, in Österreich, wo er
im Sommer 1928 unter dem Verleihtitel »Madame Steinheil« lief
– dem
historischen Vorbild für Max Brods Schauspiel, einem aufsehen-
erregenden Pariser Kriminalfall und Prozeß der Jahre 1908, 1909
–, von
den Paimannschen »Filmlisten« gar die »Gesamtqualifikation: fast ein
Schlager«.43
Ob tatsächlich die »Grundfesten des Staates« gewackelt, der Staats-
bürgerinnen und Staatsbürger Sittsamkeit einen unheilbaren Knacks
bekommen hätte, wenn dieser Film, dessen Handlung vermutlich nicht
von ungefähr in Wien angesiedelt ist, ohne Zensurschnitte in die Kinos
gekommen wäre, steht dahin. Ob der juridische Schnitzer, der Kuh in
seinem nächsten Drehbuch unterläuft, eine Retourkutsche dafür ist, daß
er im »Sensations-Prozeß« den Staatsanwalt nicht schlecht wegkommen
lassen durfte, ebenso: In »Hotelgeheimnisse. Die Abenteurerin von
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Buch Anton Kuh - Biographie"
Anton Kuh
Biographie
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anton Kuh
- Untertitel
- Biographie
- Autor
- Walter Schübler
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3189-1
- Abmessungen
- 13.8 x 22.2 cm
- Seiten
- 576
- Kategorie
- Biographien