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Lebhaft debattiert wird in der Wiener Tagespresse auch die von
der Bundesregierung betriebene Rechtsangleichung Österreichs an das
Deut sche Reich. Zwei der meistdiskutierten Punkte: Soll die Todes-
strafe und ein Tatbestand »Hochverrat«* eingeführt werden? – Kuh
dazu: »Die ›Strafrechtsangleichung‹ Österreichs an Deutschland – über
das Kapitel ist manches zu sagen
– wirft ihren Schatten voraus: eine der
schönsten und selbstverständlichsten Traditionen unseres neuen Staats-
wesens war bisher eine Lücke in der Rechtspflege: nämlich das Fehlen
von Hochverratsverfolgungen. / Nun erfahre ich, daß man dem Ober-
sten Wolff, dem allzeit kaisertreuen, wegen Hochverrats den Prozeß
machen will. Man wird mir kaum nachsagen, daß ich’s politisch mit
ihm halte. Aber was das inkriminierte Delikt betrifft – reichen Sie mir
die Hand, Herr Oberst, ich begeh’ es mit jedem Atemzug! Wie lange ist
es her, daß der Abgeordnete Pernerstorfer im Reichsrat unter schallen-
der Heiterkeit des Hauses den Ausspruch prägte: ›Wer ein guter Öster-
reicher ist, der ist mindestens einmal in seinem Leben ein Hochverräter
gewesen‹? Alt-Österreich lachte zu dem Satz; Neu-Österreich ist stren-
ger. Es leistet sich, wie in allem, um so mehr Gesetzesprotzerei, je weni-
ger es Staat ist. Wir gehen rigorosen Zeiten entgegen. Und es wird nicht
lange dauern, daß man einen neuen Franz Stelzhamer, der den Vers zu
dichten wagte: / Ein Österreicher bin i / Aus’m Österreicher Land /
* Juristische Grundlage der vor dem Leipziger Reichsgericht gegen Personen,
die unter der Anklage »Verbreitung revolutionärer Schriften« stehen, ge-
führten Prozesse sind die Hochverratsparagraphen des Strafgesetzbuchs.
Dabei wird der Tatbestand »Vorbereitung zum Hochverrat« so weit ge-
dehnt, daß ihn das Gericht schon in der Äußerung und Verbreitung radikaler
gesellschafts- und staatskritischer Ansichten in Wort und Schrift erfüllt sieht
(»literarische Form der Aufreizung«). Eine massive Beschneidung der per
Verfassung verbürgten Rede- und Meinungsfreiheit. Der achtunddreißig-
jährige Schriftsteller, Rezitator und ehemalige Schauspieler Josef (»Rolf«)
Gärtner wird am 21. Juli 1925 vom Leipziger Reichsgericht zu fünfzehn
Monaten Gefängnis und hundert Mark Geldstrafe verurteilt, weil das Ge-
richt den Tatbestand des »literarischen Hochverrates« erfüllt sieht. Gärtner
habe am 7. November 1924 bei einer von Stuttgarter KPD-Organisationen
veranstalteten »›revolutionären Gedenkfeier zum siebenten Jahrestage der
russischen Revolution und zum zehnjährigen Gründungstage der Kommu-
nistischen Partei in Stuttgart‹ durch Rezitationen einer revolutionären, zum
bewaffneten Aufruhr wider den bürgerlichen Gegenwartsstaat aufrufenden
Dichtung von Walter Steinbach sowie einer Huldigung an den toten Lenin
und schließlich durch die szenische Leitung entsprechender dramatischer
Darbietungen den Umsturzwillen der Festteilnehmer herbeizuführen«
geholfen (Vossische Zeitung, Nr. 342, 22.7.1925, 1. Beil. [S. 1]).
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Buch Anton Kuh - Biographie"
Anton Kuh
Biographie
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anton Kuh
- Untertitel
- Biographie
- Autor
- Walter Schübler
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3189-1
- Abmessungen
- 13.8 x 22.2 cm
- Seiten
- 576
- Kategorie
- Biographien