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diese Ausbildung stellte einen ersten Schritt in
Richtung Pfarramt und Regierungsfunktionen
dar, Berufe die de facto für die Patrizier reserviert
waren. Und eine wissenschaftliche Karriere, oh-
ne ausreichende finanzielle Unterstützung und
ohne Zugang zum internationalen Netzwerk, zu
dem das Patriziat viele Kontakte hatte, war na-
hezu unmöglich. Akademische Professoren teil- ten diesen Standpunkt wahrscheinlich nicht und
glaubten aufrichtig, dass ihre Stelle der Beweis
einer natürlichen Überlegenheit war.46 Jedenfalls
ist diese Reihe von Büsten vor der Orangerie eine
Würdigung der politischen, ökonomischen und
intellektuellen Genfer Elite, die sich hier wir-
kungsvoll selbst inszeniert.
ein eindringling: jean-jacques rousseau
Inmitten dieser steinernen Gesellschaft erscheint
Rousseau wie ein Eindringling. Er war kein aner-
kannter Naturwissenschaftler und gehörte nicht
zur Aristokratie. Seine Schriften waren nicht
elitär, sondern wurden im Gegenteil von allen
Genfer Gesellschaftsschichten gelesen. Seine li-
terarischen Werke haben einen sozialen Protest
gegen das Ancien Régime ausgelöst und wurden
von einem Großteil der Patrizier als gefährlich
angesehen.
Zur Zeit der französischen Revolution wurde
in Genf ein Denkmalprojekt für Rousseau vor-
geschlagen. Man verwandelte den Parc des Bas-
tions in ein Lycée National für die Parade und
weihte hier 1794 eine Büste von Rousseau auf
einer Säule ein, ein Werk des Jean Jacquet.47 Es
war tatsächlich das erste öffentliche Denkmal in
Genf, hatte aber nur ein kurzes Leben. Während
der Terrorherrschaft 1794 wurden nicht weit ent-
fernt von ihm einige Genfer Patrizier hingerich-
tet.48 Zur Zeit der Restauration wollte die Regie-
rung dieses Monument, Symbol der Revolution, sofort entfernen. Die Einweihung der Orangerie
war also ein guter Vorwand.
Die Büste Pradiers, die ebenfalls Rousseau
darstellt, wurde hingegen ihrer revolutionären
Konnotation entkleidet und inhaltlich neu be-
setzt. Hier ist Rousseau nicht der Schriftsteller
wie in der akademischen Bibliothek, ebenso we-
nig der Philosoph, wie vormals im Parc des Bas-
tions, sondern ein Botaniker, der in eine Grup-
pe von Genfer Gelehrten integriert wird, um so
ganz ungefährlich – das heißt unpolitisch – zu
erscheinen.
Diese reduzierte Version Rousseaus wurde
von vielen Genfern als unbefriedigend empfun-
den, sowohl vom Volk, das ohne politische Ein-
flussmöglichkeiten war, als auch vom liberalen
Flügel des Patriziats, der in Rousseau einen be-
sonders verdienten Bürger der Stadt sah.49 An
den Diskussionen beteiligten sich die bereits er-
wähnten Jean-Gabriel Eynard, Marc-Antoine
Pictet, Guillaume Favre und Guillaume-Hen-
ri Dufour.50 Es wurde eine Kommission gebil-
James Pradier und die Hommage an die genfer elite 281
46 Montandon, Le développement de la science (zit. Anm. 4), S. 64–68. Diese Theorie kann natürlich nuanciert
werden, aber im XVIII. Jahrhundert wurde die Akademie hauptsächlich von Patriziern und Ausländern besucht
(ebenda, S. 66).
47 Buyssens, La question de l’art (zit. Anm. 1), S. 238–243.
48 E. Golay, Révolutions à Genève: une chronologie, in: Révolutions genevoises (Ausstellungskatalog Genf, Maison
Tavel), Genf 1989, S. 7–20.
49 Corboz, La „refondation“ (zit. Anm. 1), S. 74–80. Für die politischen Spannungen um Rousseaus Denkmal, siehe
I. Herrmann, Genève entre république et canton. Les vicissitudes d’une intégration nationale (1814–1846), Genève
2003, S. 385–394; Buyssens, La question de l’art (zit. Anm. 1), S. 369–378.
50 Bibliothèque de Genève, Archives de la Société Jean-Jacques Rousseau, ms R. 62.
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Der Arkadenhof der Universität Wien und die Tradition der Gelehrtenmemoria in Europa
- Titel
- Der Arkadenhof der Universität Wien und die Tradition der Gelehrtenmemoria in Europa
- Herausgeber
- Ingeborg Schemper-Sparholz
- Martin Engel
- Andrea Mayr
- Julia Rüdiger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- WIEN · KÖLN · WEIMAR
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20147-2
- Abmessungen
- 18.5 x 26.0 cm
- Seiten
- 428
- Schlagwörter
- Scholars‘ monument, portrait sculpture, pantheon, hall of honour, university, Denkmal, Ehrenhalle, Memoria, Gelehrtenmemoria, Pantheon, Epitaph, Gelehrtenporträt, Büste, Historismus, Universität
- Kategorien
- Geschichte Chroniken