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ten als – zumindest in Gießen glaubenspolitisch
höchst streitbarer – Geistesadel, auf das auch
Stefanie Knöll in ihren umfangreichen Studien
zur frühneuzeitlichen Professorenmemoria wie-
derholt hinweist.18 Funktional und strukturell
unterscheidet sich die Anlage der Rektorengrab-
denkmäler in Gießen von der Situation in an-
deren Universitätsstädten der Epoche, denn an-
ders als z.B. in Tübingen gab es hier keine für
das Fürstenhaus und hochrangige Universitäts-
angehörige gleichermaßen dienende Begräbnis-
stätte bzw. -kirche. Und im Unterschied zu Ox- ford besaß die Ludwigs-Universität auch keine
eigene Kapelle, die als exklusive Grabstätte der
Professoren und als ein Raum gesteigerter kor-
porativer Repräsentation hätte dienen können.
Diese Aufgabe hatte in Gießen die Professoren-
galerie zu erfüllen, während die Rektoren-Epi-
taphien in der Kapelle des städtischen Friedhofs
den prägnanten und zunächst stark glaubenspo-
litisch motivierten Nukleus eines in der Folge-
zeit stetig wachsenden Grabdenkmalensembles
bildeten.
individualisierungstendenzen im 19. jahrhundert
Im Lauf der Zeit wurde der alte Gießener Fried-
hof von der Kapelle ausgehend in Richtung Sü-
den und Osten erweitert und nahm bis in das
frühe 20. Jahrhundert zahlreiche Grabmäler und
Grabdenkmäler auf, darunter viele von Professo-
ren und anderen Mitgliedern der Universität, die
zur gesellschaftlichen Elite der Stadt gehörten
und über die nötigen Finanzmittel verfügten.19
Anders als die Professorengalerie in der Univer-
sität und die Rektoren-Epitaphien im Inneren
der Friedhofskapelle sind die Grabmonumente
im Außenraum kein ästhetisch homogenes oder
gar seriell angelegtes Ensemble, sondern ein un-
systematisch gewachsener und künstlerisch sehr
heterogener Bestand.20 Das gilt für nahezu alle
Momente der neuzeitlichen bzw. modernen Ge-
lehrtenmemoria in Gießen. Für das 19. und 20. Jahrhundert lassen sich
diverse Maßnahmen aufzeigen, die darauf ange-
legt waren, die Universität, ihre Funktionsberei-
che und Professoren bzw. die Erinnerung daran
im innerstädtischen Raum zu verankern. Dazu
gehört zum einen die Anbringung von Gedenk-
tafeln, die an die Wohnung oder Wirkungsstätte
ehemaliger Professoren erinnern. Des Weiteren
wurden zahlreiche Gießener Straßen, Gebäude,
Hörsäle, öffentliche Einrichtungen und Plätze
nach namhaften Professoren – und später auch
Professorinnen – der Universität benannt.
Besonders präsent war und ist der Chemi-
ker Justus Liebig (1803–1873), der 1824–1852
an der Ludoviciana lehrte und dessen Namen
die Hochschule seit ihrer Wiedereröffnung als
Volluniversität 1957 trägt.21 Der Chemiehörsaal,
Liebigs Labore und seine private Wohnstätte wa-
sigrid ruby
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18 Vgl. S. Knöll, Creating (zit. Anm. 10); dies., Funeral monuments to professors in 17th century Oxford, in: Crea-
ting Identities. Die Funktion von Grabmalen und öffentlichen Denkmalen in Gruppenbildungsprozessen (hrsg.
von R. Sörries), Norderstedt 2007, S. 231–240; dies., Die Grabmonumente der Stiftskirche in Tübingen, Stuttgart
2007; dies., Vom Ruhm des Geistesadels: Professorengrabmäler in Oxford, Leiden und Tübingen, in: Frühneuzeit-
liche Universitätskulturen (zit. Anm. 3), S. 273–284.
19 Zur Entwicklung des Alten Friedhofs in Gießen vgl. Denkmaltopographie (zit. Anm. 13), S. 384–398. Als im ausge-
henden 19. Jh. die Kapazitätsgrenzen des Alten Friedhofs absehbar wurden, begann die Stadt mit der Planung des
Neuen Friedhofs auf dem Rodtberg im Norden Gießens, der erstmals 1903 belegt wurde. Vgl. ebd. S. 373–378.
20 Nur in wenigen Fällen lassen sich offizielle Auftraggeber nachweisen, bei den meisten handelt es sich um private
Familiengräber.
21 Vgl. Liebig in Gießen. Vom Außenseiter zum Ehrenbürger (Ausstellungskatalog Gießen, Oberhessisches Museum,
hrsg. von L. Brake und F. Häring), Gießen 2003.
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Der Arkadenhof der Universität Wien und die Tradition der Gelehrtenmemoria in Europa
- Titel
- Der Arkadenhof der Universität Wien und die Tradition der Gelehrtenmemoria in Europa
- Herausgeber
- Ingeborg Schemper-Sparholz
- Martin Engel
- Andrea Mayr
- Julia Rüdiger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- WIEN · KÖLN · WEIMAR
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20147-2
- Abmessungen
- 18.5 x 26.0 cm
- Seiten
- 428
- Schlagwörter
- Scholars‘ monument, portrait sculpture, pantheon, hall of honour, university, Denkmal, Ehrenhalle, Memoria, Gelehrtenmemoria, Pantheon, Epitaph, Gelehrtenporträt, Büste, Historismus, Universität
- Kategorien
- Geschichte Chroniken