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aber sie sind gepaart mit einem aufmerksamen,
forschenden Gestus und zugleich mit einem
Ausdruck von Bescheidenheit (Abb. 15).
Eine besondere künstlerische Leistung ist die
Gestaltung des Sockels. Die Tradition des klas-
sizistischen Sockels aufnehmend, hat die Künst-
lerin ihm eine völlig neue Form gegeben. Das
wuchtige Postament entwickelt eine eigene
Überzeugungskraft. Es ist zu einem immanen-
ten Teil des Kunstwerkes geworden und bietet
bemerkenswertes Potenzial, Erinnerungsarbeit
zu leisten. Nur die vordere Seite mit dem Na-
menszug Lise Meitners in ihrer Handschrift ist
spiegelglatt und erinnert in seiner Schräge an jü-
dische Grabsteine. Unübersehbar eingeschnitten
in diese Schräge ist ein Pfad in Form einer Trep-
pe. Schwarzbach will hier auf die gebrochene
Biografie Meitners verweisen, ihre Karrierestu-
fen, die plötzlich abbrachen, sodass sie gezwun-
gen wurde, ihren Weg in einer anderen Welt, im
Ausland, hier auf der anderen Seite des Sockels, weiterzugehen, denn eine schmale Furche teilt
auf der Oberseite denselben. Die auf dem Sockel
zierlich wirkende Figur steht erhobenen Haup-
tes auf dem hinteren Teil des Sockels, doch ihre
Fußspitzen berühren noch den vorderen Teil, ih-
re Vergangenheit, die erste Hälfte ihres Lebens.
Die Formeln an den Sockelseiten wirken ei-
nesteils wie eine Klammer dieses Wissenschaft-
lerinnenlebens: In die linke Seite des Sockels ist
eine handschriftliche Formel zum Beschuss von
Uran mit Neutronen aus Lise Meitners Tage-
buch aus dem Jahr 1935 eingebettet und in die
rechte Seite des Sockels das vereinfachte Schema
der Kernspaltung. Heute wissend um die gewal-
tige Zerstörungskraft, die diese Formel wider-
spiegelt, ist die hintere Sockelseite aufgebrochen
wie nach einer Eruption. Doch gleichsam asso-
ziiert die Rückseite des Sockels wie auch das ge-
samte Postament mit seinen Schrunden, Ris-
sen und Brüchen das 20. Jahrhundert als ein, so
Osip Mandelstam, „Wolfshundjahrhundert“ mit
Abb. 14: Berlin, Denkmal für Lise Meitner, Ehrenhof der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden; Anna Fran-
ziska Schwarzbach, Lise Meitner, 2014, Figur: Bronze, Sockel: Kunststein, Gesamtansicht.
angelika
keune332
Open Access © 2018 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
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Der Arkadenhof der Universität Wien und die Tradition der Gelehrtenmemoria in Europa
- Titel
- Der Arkadenhof der Universität Wien und die Tradition der Gelehrtenmemoria in Europa
- Herausgeber
- Ingeborg Schemper-Sparholz
- Martin Engel
- Andrea Mayr
- Julia Rüdiger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- WIEN · KÖLN · WEIMAR
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20147-2
- Abmessungen
- 18.5 x 26.0 cm
- Seiten
- 428
- Schlagwörter
- Scholars‘ monument, portrait sculpture, pantheon, hall of honour, university, Denkmal, Ehrenhalle, Memoria, Gelehrtenmemoria, Pantheon, Epitaph, Gelehrtenporträt, Büste, Historismus, Universität
- Kategorien
- Geschichte Chroniken