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22 JüdinnenundJuden,MobilitätundSex
DasseinüberproportionalerTeilder jüdischenBevölkerungemigrierte,hing
mitderenberuflichenTätigkeitsfeldernzusammen. InGalizienwarderHaupt-
erwerbsbereichvonJüdinnenundJudenderHandel:WährendnurdreiProzent
dernichtjüdischenBevölkerungindiesemSektorihrenLebensunterhaltbestritt,
warenes36Prozentder jüdischen.23 ImVergleichzudenanderenLändernder
MonarchiewarenJüdinnenundJudeninGalizienauchüberdurchschnittlich
oft inderLandwirtschafttätig.24Deshalb trafendie skizziertenEntwicklun-
gen,dieals„Industrialisierung“Galizienssubsummiertwerden,die jüdische
Bevölkerungbesonders stark.25FehlendePerspektiven, voralleminnerhalb
der jüdischenBevölkerung, führtenschließlichdazu,dassvieleeineMigration
alseinzigeMöglichkeit sahen.DerüberproportionalgroßeAnteil anJüdinnen
undJudenindieserMigrationsbewegungwareinGrunddafür,dassdieseals
‚jüdische‘Massenmigrationbezeichnetwird.26 InderGeschichteder Jüdinnen
undJuden,sokonstatiertderHistorikerLloydGartner,„[m]igrationisnotpart
of Jewishhistory, it is Jewishhistory itself.“27
ZieldestinationenderzunächstvorherrschendenBinnenmigrationwaren
diegrößerenStädtederBukowinaundGaliziens.Nachundnachzogendie
Menschenauf ‚Wanderschaft‘ immerweitereKreiseundgelangtenindieMetro-
polenderMonarchie.WirklicheZukunftsperspektiveabersahendiemeisten
derMigrant*innenindenVereinigtenStaatenvonAmerikaunddavorallemin
NewYork–indergoldenenMedine.GoldeneMedine standfürdievermeintlich
unbegrenztenMöglichkeitenundStraßenvollerGold,diedieMigrant*innenin
Amerikazufindenhofften.28BedingtdurchdenVerlaufderOstfrontwährend
GeburtenzuwachsundeinegeringeSterberate.Andlauer,Die jüdischeBevölkerungimMo-
dernisierungsprozessGaliziens,52–63.ZurArmut imAllgemeinensiehediezeitgenössische
Schilderungo.A.,WirtschaftlicheZuständeGaliziens inderGegenwart.
23 Hödl,AlsBettler indieLeopoldstadt,18.SieheauchAndlauer,Die jüdischeBevölkerung im
ModernisierungsprozessGaliziens1867–1914,170–171sowie282–283.
24 Andlauergibthieran,dass6,7Prozentder JüdinnenundJudeninGalizien inderLandwirt-
schaftaktivwaren.Andlauer,Die jüdischeBevölkerungimModernisierungsprozessGaliziens,
166.
25 Hödl,AlsBettler indieLeopoldstadt,20.
26 Hödl,AlsBettler indieLeopoldstadt,33–45.
27 LloydP.Gartner, „TheGreat JewishMassMigration–ItsEastEuropeanBackground“,Tel
Aviver JahrbuchfürDeutscheGeschichte27(1998):107–133,107.
28 GoldeneMedine ist Jiddisch;dasWortmedinekommtausdemHebräischenundbedeutet
LandoderStaat;wörtlichübersetztheißtgoldenemedinealso„goldenesLand“. ImKontext
derMassenmigrationum1900wurdedasSprechenvondergoldenenMedinezurMetapher
fürAmerikaundzumSynonymfürdasLandderFreiheit,Gerechtigkeitundunbegrenzten
Möglichkeiten.„DerreicheOnkel inAmerika“und„StraßenmitGoldgepflastert“wurdenzu
Idiomendergoldenenmedine. Ironischgebraucht,meintgoldenemedineauch„Paradiesder
Narren“.
© 2021 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien
https://doi.org/10.7767/9783205211884 | CC BY 4.0
Auf die Tour!
Jüdinnen und Juden in Singspielhalle, Kabarett und Varieté
Zwischen Habsburgermonarchie und Amerika
- Titel
- Auf die Tour!
- Untertitel
- Jüdinnen und Juden in Singspielhalle, Kabarett und Varieté
- Autor
- Susanne Korbel
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21188-4
- Abmessungen
- 15.9 x 24.0 cm
- Seiten
- 272
- Kategorie
- Kunst und Kultur