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Die Bautätigkeit Herzog Leopolds VI.
116 lass , deswegen in Klosterneuburg ein zweites Aachen entstehen zu lassen. Leopold
hatte während der zehn Jahre des Doppelkönigtums in Deutschland ( 1198–1208 )
und auch während der Auseinandersetzungen um die Herrschaft Kaiser Ottos IV.
zwischen 1211 und 1214 niemals eigene Ambitionen für die Erlangung der deut-
schen Königskrone entwickelt. Seine Loyalität zu Friedrich II. beruhte einerseits
auf der stauferfreundlichen Tradition seines Hauses , andererseits auf naheliegen-
den eigenen Machtinteressen , nämlich der Absicherung seines Länderbesitzes un-
ter der Schirmherrschaft einer gefestigten kaiserlichen Regierung , mit der seine
Familie verbunden war. In Klosterneuburg ein zweites Aachen zu errichten , hätte
als unangemessene Demonstration von Machtansprüchen erscheinen und den Ba-
benberger bei dem auf absolute Loyalität seiner Parteigänger bedachten Kaiser in
Misskredit bringen müssen und wäre daher politisch kontraproduktiv zu der ange-
strebten langfristigen Konsolidierung der babenbergischen Herzogtümer gewesen.
Es erscheint daher vor diesem Hintergrund auch historisch nicht gerechtfer-
tigt , für die Capella Speciosa in Klosterneuburg eine architekturikonologische Be-
zugnahme auf den Bau der Pfalzkapelle von Aachen anzunehmen , wie Ulrike See-
ger vorgeschlagen hat. Vielmehr aber stellt sich die Frage nach der tatsächlichen
Funktion und Bedeutung der Capella Speciosa. Hierzu erscheint ein ausführli-
cherer Exkurs über die religiöse Entwicklung im 13. Jahrhundert angebracht.
Im mittelalterlichen Frömmigkeitsverständnis divergierten die Begriffe der
Heiligkeit und des Heiligen : Einerseits sah sich der Gläubige innerhalb der com
munio sanctorum , in der gemeinschaftlichen Anteilnahme am Heiligen. So vertrat
Thomas von Aquin die Auffassung , dass allen Christen der Kirche der Titel heilig
zustehe380. Andererseits fanden jene Vollendeten , die bereits zur Anschauung Got-
tes gelangt und nach der Vision des Johannes in der Apokalypse unter dem Altar
des Himmels versammelt sind , als herausragende Vorbilder eine kultische Vereh-
rung. Ihren Reliquien gebührte höchste Wertschätzung , ihnen haftete ein über
das Materielle weit hinausreichender Glanz der Verklärung an381.
Um die metaphysische persönliche Präsenz der in ihren Reliquien gegenwärti-
gen Heiligen noch anschaulicher zu machen , wurden die Pignora , die sterblichen
Überreste der Heiligen , häufig in kostbaren Figuren oder Büsten eingeschlossen.
Wie Bernhard von Angers berichtet , hatte in der Auvergne nach alter Tradition je-
de Kirche die Reliquienstatue ihres heiligen Patrons aus Gold oder Silber , so wie in
Aurillac die Figur des hl. Gerald oder die Statue der heiligen Fides in Conques382.
Mittelalterliche Zeugnisse über den Umgang mit den Reliquien beweisen stets
die Auffassung der Gläubigen von der realen Gegenwart der Heiligen in ihren
Die Baukunst des 13. Jahrhunderts in Österreich
- Titel
- Die Baukunst des 13. Jahrhunderts in Österreich
- Autor
- Mario Schwarz
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78866-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Medieval architecture, Austrian art, Medieval art, Austrian architecture, Architectural history, 13th century architecture
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
- Kunst und Kultur