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119Die
Bautätigkeit Herzog Leopolds VI.
fanden nach den Reformen des Vierten Laterankonzils neue Entfaltungsmöglich-
keiten in der Kapelle. Während die Massen der Gläubigen am Gottesdienst in
der Kathedrale oder in der Pfarrkirche teilnehmend den Moment der Elevation
und damit der Gottesschau geduldig erwarten mussten , hatte der Besitzer einer
Privatkapelle die Möglichkeit , dieses zentrale Ereignis jederzeit nach seinem Be-
lieben stattfinden zu lassen , wenn er einen Priester bestellte , um die Messe zum
erwünschten Zeitpunkt zu zelebrieren. Die Gottesbegegnung wurde dadurch in-
dividuell aufrufbar. Ebenso bot die Kapelle die Möglichkeit , private Gebetsan-
dachten zu halten , ohne von der Menge der Gläubigen beeinträchtigt und gestört
zu werden , die sich bei den Gottesdiensten in den Kathedralen drängte. Der Be-
sitzer der Kapelle konnte in privater Zurückgezogenheit jene von ihm ganz spe-
ziell bevorzugten Heiligen im Gebet um ihre Fürsprache bei Gott bitten , deren
Reliquien er im Altar oder in Reliquiaren in seiner Kapelle aufbewahrte.
In der französischen Baukunst des 12. und frühen 13. Jahrhunderts ereignete
sich ein vielschichtiger , vielfach vernetzter Entwicklungsprozess , der die Übertra-
gung und Übernahme von Gestaltungsprinzipien , bautechnischen Strukturfor-
men und Motivdetails im Austausch zwischen sämtlichen Formen des Kapellen-
baus – und zwar der an Großkirchen gebundenen Chorkapellen ebenso wie der
frei stehenden eingeschossigen und doppelgeschossigen Kapellen – erkennen lässt.
Einen wichtigen Platz in dieser Entwicklunsgeschichte nehmen die bischöflichen
Privatkapellen ein , die als selbstständige Bauten neben den Kathedralen errichtet
wurden. Die Bischofskapelle bei Nôtre-Dame in Paris wurde unter dem Episkopat
des Bischofs Maurice de Sully ( 1160–1196 ) erbaut394 ; an ihrer Stelle stand zuvor die
Kirche Saint-Etienne , die im 12. Jahrhundert bereits baufällig war und abgebro-
chen wurde. Der Chorneubau der Kathedrale Nôtre-Dame , der als Vorbild für die
Bischofskapelle angesehen wird , war 1163 begonnen und 1182 geweiht worden395.
Eine Datierung der Bischofskapelle zwischen 1182 und 1196 ist wahrscheinlich.
Gleichzeitig mit dem Bau der Chorscheitelkapelle der Kathedrale von Reims ent-
stand südlich des Doms die Erzbischöfliche Kapelle Sainte-Nicolas et Jacques396.
Die Kapelle steht achsenparallel zur Kathedrale auf mittlerer Höhe des Chorhaup-
tes397. Ihre Außenerscheinung wird durch die dichte Stellung von ringsherum an-
geordneten Strebepfeilern geprägt. Die frei stehende Kapelle ist doppelgeschossig ,
wobei das untere Geschoss etwa zu zwei Dritteln seiner Höhe in den Boden vertieft
ist und kryptenartigen Charakter bestzt. Das Obergeschoss besitzt mehr als die
doppelte Raumhöhe des Untergeschosses. Dieter Kimpel und Robert Suckale da-
tieren die Erbauung der Erzbischöflichen Kapelle von Reims gegen 1215 / 20398.
Die Baukunst des 13. Jahrhunderts in Österreich
- Titel
- Die Baukunst des 13. Jahrhunderts in Österreich
- Autor
- Mario Schwarz
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78866-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Medieval architecture, Austrian art, Medieval art, Austrian architecture, Architectural history, 13th century architecture
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
- Kunst und Kultur